Die San Juans rufen – und wir haben geantwortet. Sie fordern alles, was wir noch übrig haben: mit endlosen Anstiegen, rauem und weglosen Gelände. Aber sie geben auch etwas zurück, das all die Mühe wert ist. Goldene Täler voller Wildtiere ziehen sich scheinbar endlos dahin. Wapitirufe hallen durch die klare Luft, und Sonnenuntergänge tauchen die Gipfel in ein Farbspektakel.
CDT Tag 99 – Ein unvergesslicher Hitch
7,3 km / 360 hm / 1,5 h
Wir verlassen Creede am späten Nachmittag und kaum stehen wir am Straßenrand, hält schon ein Auto. Sylvia, eine herzliche 87-Jährige, und ihre Hündin Maggie nehmen uns mit. Unterwegs zeigt sie uns sogar noch einen Wasserfall. Am Ende fühlt es sich so an, als würden wir uns von einer alten Freundin verabschieden. Wir tauschen Adressen für Postkarten, umarmen uns herzlich und winken ihrem sich entfernenden Auto hinterher.
Wir treffen auf Shoey, Chimney und Tripod, die gerade aus Lake City zurückgekehrt sind und ebenfalls die lange Route durch die San Juans gewählt haben. Am Ende des Tages leuchten die San Juan Mountains im Licht eines spektakulären Sonnenuntergangs. Was für ein wunderschöner Empfang in dieser abgelegenen Wildnis, durch die wir in den nächsten fünf Tagen wandern werden.
CDT Tag 100 – Bergwahn
34,4 km / 1.330 hm / 9 h
Wir wachen mit der aufgehenden Sonne auf, der Himmel getaucht in weiches Gelb und Violett. Pikas huschen zwischen den Felsen umher und pfeifen durch die kühle Morgenluft. Der Weg führt uns über Grate bis hinauf zum höchsten Punkt des Colorado Trails. Der Aufstieg ist lang, stellenweise steil, meist aber angenehm. Und trotzdem raubt er mir den Atem – vor Anstrengung und vor Staunen.
Beim Mittagessen holt uns Randi ein, und wir wandern den restlichen Tag gemeinsam. Die Wolken werden dichter, die Luft kälter, und leichter Regen begleitet uns durch eindrucksvolle Täler, eingerahmt von steilen Gipfeln. Wir sehen mehrfach Elche – die Wildnis ist spürbar. Besonders ein Tal bleibt mir im Kopf: Der Boden leuchtet in Farben von blaugrau bis rot, während sich das Wetter über den Bergen zusammenzieht. Es wird so kalt, dass ich meine Handschuhe anziehe.
Wir finden einen ebenen Platz zum Zelten, aber ohne Windschutz. Als der Regen einsetzt, bauen wir hastig unsere Zelte auf. Der Aufbau ist nicht perfekt, aber immerhin sind wir warm und trocken und warmes Essen spendet uns Trost. Dann hört der Regen genau rechtzeitig für einen weiteren atemberaubenden Sonnenuntergang auf.
In der Nacht hören wir Wapitis in der Ferne röhren. Gegen 4 Uhr frischt der Wind auf, und eine Stunde später folgt der nächste Regen.
CDT Tag 101 – Wapiti-Serenaden und Elchbegegnungen
33,9 km / 1.460 hm / 8,5 h
Die Wapitis röhren die ganze Nacht und bei Tagesanbruch sind sie überall um uns herum. Auch ein Elch trottet hinter unseren Zelten vorbei. Es fühlt sich an, als wären wir in eine andere Welt eingetreten: epische Ausblicke auf jedem Grat, überall Wildtiere. Wir sehen Hunderte Wapitis, dazu noch ein paar weitere Elche, viele Murmeltiere und Pikas.
Beim Mittagessen nehmen wir Bewegung auf einem entfernten Grat wahr. Als ein Raubvogel darüber hinwegfliegt, springt ein Tier in die Luft und ein herangezoomtes Foto offenbart einen Kojoten, der sich vermutlich im Streit über Beute mit dem Vogel befindet.
Der erste morgendliche Anstieg verlangt mir alles ab. Ich fühle mich schwach und energielos, schleppe mich aber weiter. Die meisten Wanderer haben morgens ihren Höhepunkt und werden später langsamer, aber bei mir ist es genau andersherum. Am Nachmittag finde ich meinen Rhythmus und bewältige den letzten Anstieg ohne Pause. Die Aussicht von oben ist überwältigend: Die Rio Grande Pyramid ragt imposant vor uns auf, flankiert von zerklüfteten Felsformationen mit einer markanten Lücke dazwischen, genannt „The Window“.
Nach 16 Kilometern lassen wir den Colorado Trail hinter uns und sofort zeigt sich das wahre Gesicht des CDT: Der Weg wird rauer, mit umgestürzten Bäumen, dornigen Büschen und felsigem Terrain. Meine Beine sind zerkratzt, und wir müssen wiederholt FarOut im Auge behalten, um dem schlecht markierten Trail zu folgen. Wir kriechen unter umgestürzten Baumstämmen hindurch, schlagen uns durch und erreichen schließlich Ute Lake, wo wir unser Camp für die Nacht aufschlagen.
CDT Tag 102 – Ein Fenster zum Sonnenuntergang
35,4 km / 1.420 hm / 10 h
Die San Juans sind atemberaubend, aber auch gnadenlos, besonders nach fast vier Monaten und fast 3.000 Kilometern Wandern. Ich frage mich, wie manche mehrere Thru-Hikes in einem Jahr bewältigen. Wir verabschieden uns von Randi, der nun wieder sein eigenes, schnelleres Tempo geht.
Heute erreichen wir endlich „The Window“ und die Rio Grande Pyramid, zwei markante Felsformationen in den San Juans, die wir schon vor zwei Tagen aus der Ferne gesehen haben. Aus der Nähe wirkt das Fenster viel größer als gedacht: eine gewaltige Lücke zwischen den Felsen am Grat. Wir machen Mittagspause an einem kleinen See direkt darunter. Ryan springt mutig ins eiskalte Wasser, ich genieße lieber die Sonne.
Der Trail führt hinab in eine große Wiese, wo wir prompt falsch abbiegen. Erst nach einem Kilometer merken wir es, und selbst dann sind wir etwas orientierungslos und überqueren einen Fluss um zurück zum CDT zu gelangen. Meine ausgelatschten Schuhe bleiben heute aber trocken, denn ich gehe barfuß hindurch, während spitze Steine sich in meine Fußsohlen bohren. Besser als wunde Füße. Da ich das Paket mit meinen neuen Schuhen nicht erhalten habe, haben meine Trailrunner jetzt schon über 1.000 Kilometer herhalten müssen, und man merkt es ihnen an. Jedes Mal, wenn sie nass werden, sorgen sie für neue wunde Stellen an meinen Füßen, die ich mit Leukotape abklebe.
Zurück auf dem richtigen Weg erwartet uns ein steiler Anstieg durch hohe, kratzige Büsche. Ich fluche wieder über den CDT. Doch je höher wir steigen, desto schöner wird das Licht. Um uns herum röhren Wapitis, und das Tal unter uns leuchtet im goldenen Schein der Abendsonne. Am Grat erleben wir einen spektakulären Sonnenuntergang, genau hinter dem Felsenfenster und der Pyramide. Es muss diesen einen Tag im Jahr geben, an dem die Sonne genau im Fenster untergeht.
Hinter einer Felswand finden wir einen geschützten Platz für unser Zelt. Ich bin erschöpft, hungrig und etwas frustriert. Nur 30 Kilometer an einem ganzen Tag fühlen sich hier wie ein hart erkämpfter Sieg an.
CDT Tag 103 – Auf Messers Schneide
32,4 km / 1.300 hm / 9 h
Die Tage werden härter und unsere Tageskilometer sinken. Es ist der vierte Tag in Folge mit vielen Höhenmetern und wir schleppen uns nur noch voran. Ich kann mir nicht vorstellen, wie manche Leute hier so schnell unterwegs sind, aber wir sind nicht sie. Es wäre nötig, mindestens 4.000 Kalorien am Tag zu essen, aber das scheint unmöglich.
Zu den Höhepunkten des Tages zählen wunderschöne alpine Seen und eine nervenaufreibende Traverse entlang der Knife’s Edge. Letztere ist ausgesetzt, stellenweise stark erodiert, und kratzige Büsche drücken uns gefährlich nah an den Abgrund. Wir müssen uns in ihre dornigen Zweige lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Meine Schuhe sind ausgelatscht, meine Beine ungeschickt. Ich stolpere über Steine, Wurzeln und manchmal einfach über meine eigenen Füße. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie das bei Schnee wäre. Auch so reicht der Adrenalinspiegel völlig aus. Erleichtert atmen wir auf, als wir das Stück hinter uns lassen – nur um festzustellen, dass die Traverse auf der anderen Seite des Berges weitergeht. Zum Glück ist sie dort harmloser.
Wir füllen Wasser auf, ohne zu ahnen, dass es die letzte Quelle vor unserem geplanten Camp ist. Während die goldene Stunde beginnt, wandern wir über einen Grat, der im Sonnenuntergang leuchtet. Trotz eines ganzen Tages Wandern haben wir nur 32 Kilometer geschafft. Ich bin erschöpft. Normalerweise habe ich einen schlechten Tag und dann geht’s wieder. Dieses Mal zieht sich das Tief über mehrere Tage.
Noch ein voller Wandertag liegt vor uns, bevor wir übermorgen endlich wieder eine Straße und damit die nächste Stadt erreichen.
CDT Tag 104 – Reservierung für Zwei im Struggle Bus
32,7 km / 1.380 hm / 9 h
Ich fühle mich immer noch schwach, obwohl der Tag objektiv gar nicht so hart ist. Bei jedem Anstieg wird mir übel, jeder Abstieg fühlt sich an, als würde mir jemand in die Magengrube schlagen. Etwas stimmt nicht mit meinem Magen, vielleicht eine Infektion durch Parasiten im Wasser? Wir filtern nur selten, es wäre also recht wahrscheinlich, dass uns dieses unvorsichtige Verhalten irgendwann mal einholt. Wir schaffen gerade so 33 Kilometer. Solche Leistungen mit einer Magen-Darm-Infektion zu vollbringen, ist das Härteste, das ich je gemacht habe.
Am Morgen treffen wir Shoey und Chimney wieder – auch sie haben einen harten Tag hinter sich. Es tut gut zu wissen, dass ich nicht allein kämpfe. Shoey schenkt mir etwas von ihrem übrigen Essen. Eine Geste, die in diesem Moment riesengroß wirkt.
Das Wetter ist traumhaft, die Gratwanderungen spektakulär, die Ausblicke atemberaubend und doch kann ich es nicht genießen. In meinem Kopf läuft immer wieder diese Szene aus dem Buch World War Z, in der der chinesische Arzt gesagt bekommt: „Everything’s going to be alright“ – kurz bevor die Zombie-Apokalypse beginnt.
Beim letzten Abstieg zum Zeltplatz schrecke ich plötzlich zusammen: Ein Mann steht am Wegesrand. Er heißt Smiley, bietet uns Oreos an und erzählt, dass er 2016 den CDT gelaufen ist und nun eine kleine Runde dreht.
Morgen sind es nur noch 15 Kilometer bis zur Straße. Wir haben uns noch nie so sehr auf eine Stadt gefreut. Ich will duschen. Ein Bett. Und einfach nur ausruhen.
CDT Tag 105 – Pagosa Springs
15 km / 420 hm / 3,5 h
Unsere Schritte knirschen auf gefrorenem Boden, wie jeden Morgen der vergangenen Woche. Aber heute fühle ich mich endlich besser, und wir legen die letzten 15 Kilometer schnell zurück. Unter uns sehen wir schon die Straße, und am liebsten würde ich meine Flügel ausbreiten und einfach hinuntergleiten. Aber natürlich servieren uns die San Juans noch ein paar An- und Abstiege, bevor wir wirklich unten ankommen.
An der Straße dauert es nicht lange, bis uns ein Truck auf der Ladefläche mitnimmt. Die Fahrt nach Pagosa Springs ist wunderschön: Kurvige Straßen winden sich durch Felsen und goldene Espen. Unsere Fahrer, die auf dem Weg zum Grand Canyon sind, lassen uns in der Mitte der Stadt raus und schenken uns sogar noch eine Mountain-House-Trekkingmahlzeit. So viel Freundlichkeit!
Dann hole ich endlich die dringend benötigten neuen Schuhe ab. Unser Paket ist immer noch verschollen, aber ich habe mir neue Schuhe direkt von der Salomon-Website bestellt und sie hierher liefern lassen. Der Reißverschluss an unserem Außenzelt hat den Geist aufgegeben. Zum Glück lebt Fotografin Deidre hier in Pagosa, mit der ich bisher nur über Instagram verbunden war, und leiht uns großzügig das Rainfly ihres Nemo-Zelts. Schaut euch unbedingt ihre beeindruckende Wildlife-Fotografie auf Instagram an @deirdredenaliphotography.
Leider wird Ryan krank, ein Magen-Darm-Infekt mit allem Drum und Dran. Es ist bereits das zweite Mal, dass Ryan davon heimgesucht wurde und dieses Mal ist es besonders heftig. Meine Hypothese ist, dass wir uns beide mit Giardien oder einem anderen Parasiten infiziert haben, was bei mir die Beschwerden von Übelkeit, Bauchkrämpfen, Appetitlosigkeit und Schwäche verursacht hat. Ryan hatte gestern scharfes Essen, was die Symptome extrem verstärken kann. Die Moral der Geschichte: Vergiss das Wasserfiltern nicht!
Also bleiben wir drei Tage in dieser weitläufigen, fußgängerunfreundlichen Stadt hängen. Es gibt zwar einen Bus, aber der fährt am Wochenende nicht. An einem Tag verpasse ich den letzten Bus vom Supermarkt am anderen Ende der Stadt und laufe über eine Stunde an der Landstraße entlang zurück – ohne Gehweg, mit viel Verkehr und verwesendem Roadkill am Straßenrand. Kann ich nicht empfehlen.
Herausforderungen & Höhepunkte des Abschnitts
Herausforderungen:
Körperliche Erschöpfung und Kalorienmangel nach vier Monaten auf dem Trail und Magenprobleme machen die höhenmeterintensiven San Juans zu einem Kampf.
Höhepunkte:
Die wilde Schönheit der San Juans in all ihren Facetten: Hunderte Wapitis, Elchbegegnungen, Pikas und Kojoten; dramatische Pässe, glutrote Sonnenuntergänge hinter dem Felsenfenster und der Rio Grande Pyramide.
Lektion:
Manchmal geht es nicht darum, wie man wandert, sondern nur noch darum, dass man weiterläuft. Auch wenn der Körper streikt und die Kilometer immer schwerer werden, kann man Schritt für Schritt durchkommen – und am Ende wird man mit Momenten belohnt, die alles aufwiegen.