Gavarnie schenkt uns einen seltenen Moment der Leichtigkeit: Crêpes im Schatten, vertraute Gesichter, neue Begegnungen. Doch kaum lassen wir die Stadt hinter uns, fordern uns Hitze, Gewitter und hohe Pässe aufs Neue heraus. Zwischen Lachen und Erschöpfung, idyllischen Bergseen und nächtlichen Stürmen spüren wir einmal mehr, wie nah Entspannung und Erschöpfung, Leichtigkeit und Grenzerfahrung in den Pyrenäen beieinanderliegen.
HRP Tag 15 – Ein entspannter Tag in Gavarnie, gefolgt von einem schweißtreibenden Aufstieg
Gavarnie bis Gave d’Estaubé: 11,5 km / 1.030 m / 3,5 h
Die Nacht ist unruhig: Ein Esel brüllt alle paar Stunden lautstark durchs Tal und weckt mich immer wieder auf, dann fängt auch noch Ryan das Schnarchen an, bis ich schließlich kapituliere und mir Ohrstöpsel hineinstecke. Wir schlafen bis 7 Uhr aus und machen uns ganz langsam aufbruchsbereit. Ich flicke meine Shorts, in denen sich in den vergangenen Tagen hinten ein Loch gebildet hat. Wahrscheinlich, weil ich mit dem Hintern über den ein oder anderen Felsen gerutscht bin. Wir frühstücken die letzten Baguette-Reste mit Erdbeermarmelade und verlassen dann um 11 Uhr den Campground.
In Gavarnie treffen wir Cordelia wieder, mit der wir gemütlich herzhafte Galettes (herzhafte Crêpes aus Buchweizenmehl) essen und dann einen netten Schattenplatz in der Stadt finden. Bald stoßen auch Iiro und Felix dazu. Iiro haben wir seit unserem zweiten Tag auf dem Trail nicht mehr gesehen und er ist gerade erst in Gavarnie angekommen. Felix ist ein 19-jähriger französischer HRP-Wanderer aus der Gegenrichtung, der die Strecke bis hierher inklusive aller Gipfel-Side-Quests in nur 25 Tagen geschafft hat. Außerdem ist er Pilot. Beeindruckend! So international ist unsere Runde selten: Deutschland, Frankreich, Finnland, Großbritannien und USA.
Iiro erzählt von einer nächtlichen Begegnung mit einem Fuchs, der mitten in der Nacht ein Loch durch sein Zelt gebissen und versucht hat, seinen Essensbeutel zu stehlen. So kam es zum nächtlichen Tauziehen, ohne zu wissen, gegen was oder wen er antritt. Offenbar hat seine Chorizo es dem Fuchs besonders angetan. Eine Geschichte, die uns alle zum Lachen bringt. Auch wenn jetzt ein großes Loch im Moskitonetz von Iiros kostspieligem Durston-Zelt klafft.
Es wird wieder ein heißer Tag und wir sind nicht sehr motiviert, den langen Anstieg aus der Stadt anzugehen. Außerdem haben wir schon wieder Hunger. Also gehen wir mit Iiro und Felix einen Burger essen, während Cordelia schon mal aufbricht. Mit Felix’ Hilfe kaufen wir Käse beim lokalen Käsehändler nahe des Campgrounds ein, dessen charismatisches Auftreten uns gestern bereits aufgefallen ist. Es ist so viel einfacher, jemanden dabei zu haben, der die Landessprache beherrscht.
Dann starten wir endlich in die Nachmittagshitze. Der Weg führt zunächst mit vielen anderen Menschen am Fluss entlang und dann bergauf. Wie erwartet ist es heiß und schweißtreibend, trotz größtenteils schattigen Waldes. Eine Quelle mit eiskaltem Wasser bringt Linderung. Wir spritzen es uns ins Gesicht, tauchen die Hüte darin ein und schütten es uns die Kehlen hinunter. Dazu Orangina. Es könnte schlimmer sein.
Als wir über der Baumgrenze ankommen, frischt eine Brise auf, und vor uns liegen fantastische Ausblicke: der Cirque de Gavarnie mit der berühmten Lücke in den massiven Felswänden: Brèche de Roland. Wir können das Refuge Espugette bereits über uns sehen. Eigentlich wollten wir dort zelten, doch die Menschenmassen schrecken uns ab. Die laute Gruppe gestern auf dem Campground war genug, wir sehnen uns nach einer ruhigen Nacht. Wir fühlen uns gut in der Kühle des Abends, also steigen wir weiter bis zum Pass Hourquette d’Alans hinauf. Oben angekommen, taucht die Abendsonne die Gipfel in goldenes Licht – ein Anblick, der alles andere vergessen lässt.
Beim Abstieg ins Vallée d’Estaubé treffen wir zwei Neuseeländer, Reed und Hugo, die den Hexatrek laufen und nur zweieinhalb Monate bis hierher gebraucht haben. Reed trägt einen Greenstone-Anhänger, und erzählt uns, dass er in Hawkes Bay wohnt. Ich habe 2007 ein paar Monate im benachbarten Gisborne gewohnt und wir tauschen uns darüber aus.
Auch unten im Tal stehen an diesem Freitagabend schon etliche Zelte, also gehen wir noch ein Stück weiter am Fluss entlang, bis wir ein ruhigeres Plätzchen finden. Es ist bereits 21 Uhr, als wir das Zelt aufschlagen. Dann verdrücken wir mit Käse und Salami belegtes Baguette und schlafen schließlich zum Rauschen des Flusses ein.
HRP Tag 16 – Zwischen Seen und Pässen
Gave d’Estaubé bis Rio Barrosa via Héas: 27,3 km / 1650 hm / 8,5 h
Früh am Morgen erreichen wir den Stausee Lac des Gloriettes, dessen ruhige Wasserfläche noch im Schatten liegt. Von dort führt der Weg auf Asphalt nach Héas, wo eine kleine Kapelle und die Auberge de la Munia warten. Um acht Uhr sitzen wir dort beim Frühstück: frischer Orangensaft, Kaffee und Tee, dazu Brot, Butter, Marmelade und Joghurt. Wir verputzen alles und nehmen das übrig gebliebene Stück Butter für unser Mittags-Sandwich mit. Die Auberge hat ein fantastisches Menü und aus der Küche duftet es bereits köstlich. Schade, dass wir nicht in den Genuss kommen, jetzt ist es noch zu früh. Wir freuen uns trotzdem über das gute Frühstück für 8 Euro pro Person.
Der Aufstieg zur Hourquette de Héas zieht sich über 1.000 Höhenmeter, die wir in drei Abschnitte teilen. Schweiß tropft mir brennend in die Augen, aber insgesamt ist es heute etwas kühler. Eine Brise weht, und die langen Serpentinen von der Cabane Aguilous machen den letzten Anstieg angenehm. Am Pass machen wir Mittagspause mit Sandwiches – dieses Mal mit Butter – und genießen die Sicht zurück auf den Cirque de Gavarnie, die Brèche de Roland und den Vignemale, auch wenn Dunst in der Luft liegt. Es ist das erste Mal seit Langem, dass wir keine Probleme damit haben, direkt in der Sonne zu sitzen, denn der Wind macht es angenehm. Kleine Eidechsen leisten uns Gesellschaft und ich habe meine Freude daran, die braunen und grünen Reptilien zu beobachten.
Kurz und steil geht es hinunter, dann wieder hinauf zur Hourquette de Chermentas. Es ist Samstag, der Nationalpark ist belebt, und viele Wanderer sind unterwegs. Der nun folgende Abschnitt entlang der Felsflanke des Pic d’Aguillous begeistert mich besonders und gipfelt im Anblick der Lacs de Barroude. Der größte See liegt grün schimmernd vor uns, mit kleinen Felsinseln und einem Schneefeld, das sich im Wasser spiegelt. Wir machen eine lange Pause am Ufer und lassen die Szenerie auf uns wirken. Es ist größtenteils bewölkt und daher sehr angenehm, am Seeufer zu entspannen.
Der letzte Aufstieg bringt uns zum Port de Barroude – ein weiterer Grenzübertritt nach Spanien. Ab hier wird es wieder einsamer, nachdem wir den ganzen Tag über Leuten begegnet sind. Hier sieht es durch den dunklen Schotter geradezu vulkanisch aus. Am Hang beobachten wir eine kleine Gruppe Bergziegen, die uns neugierig mustert. Danach beginnt der lange Abstieg ins Valle de Barrosa. Hier soll ein Fluss verlaufen, doch unten finden wir nur ein riesiges, ausgetrocknetes Flussbett. Wir können es nicht fassen. Das Rauschen hören wir noch von oben, aber hier unten: nichts. Wir sind müde, es war ein langer Tag, aber wir wollen Wasser. Also gehen wir weiter, in der Hoffnung, etwas zu finden. Nach einem Kilometer die Überraschung: derselbe Fluss, jetzt voller Wasser. Irgendein Zufluss speist ihn hier. Direkt daneben finden wir einen perfekten Platz fürs Zelt.
Der Tag hat Spuren hinterlassen: Ich habe mir trotz milder Temperaturen einen Sonnenbrand im Gesicht eingefangen, mein Kopf glüht, die Füße schmerzen. Ich bin fertig. Wir essen Nudeln, kombiniert mit Tomatensuppenpulver, Tomatenmark und Salami, was ein erstaunlich gutes Gericht ergibt. Da wir nun keine eigenen dehydrierten Mahlzeiten mehr haben (außer Couscous mit Linsen, was für das Mittagessen bestimmt ist), mussten wir angesichts der begrenzten Auswahl in Gavarnie erfinderisch werden. Besonders begeistert sind wir von den hiesigen Nudeln, die in drei Minuten gar sind. Ich nenne sie „Troodles“ (Three-Minute-Noodles). Richtige Nudeln, keine Instantnudeln!
HRP Tag 17 – Rauch am Himmel und Gedanken an einen Sonnenschirm
Rio Barrosa bis Camping El Forcallo via Parzán: 28,6 km / 1.320 hm / 7 h
Wir schlafen heute aus – vor neun Uhr hat in Parzán ohnehin noch nichts geöffnet. So ist es bereits hell, als wir um 7:20 Uhr losmarschieren. Heute ist es extrem dunstig, von einem der Feuer, die in einigen hundert Kilometern Entfernung wüten. Ich kann den Rauch riechen.
Die ersten Kilometer führen uns über eine Dirt Road bis zur Straße, dann folgen 5 Kilometer Asphalt nach Parzán. Dort kehren wir ins erste Restaurant ein, warten lange auf unsere Sandwiches, aber sie schmecken und sind günstig. Parzán ist eine dieser typischen Grenzstädte: klein, aber mit gleich drei Supermärkten, in denen sich Franzosen mit preiswertem Alkohol eindecken. Auch wir kaufen Vorräte, verpacken sie auf dem Parkplatz – und treffen auf Iiro, der ebenfalls in der Stadt ist.
Zusammen machen wir uns auf den 11 Kilometer langen Road Walk hinauf zum Paso de los Caballos. 1.100 Höhenmeter auf Schotterstraße – nicht gerade der spannendste Teil des HRP. Aber perfekt zum Socializen: Wir quatschen, lassen die Kilometer verfliegen. An einer Quelle am Straßenrand treffen wir Alex aus Würzburg, der den GR 11 in Teilstücken läuft. Dieser gesamte Abschnitt nach Parzán folgt dem GR 11 für 23 km. Besonders interessiert bin ich allerdings an seinem Gossamer Gear Sonnenschirm. Zum ersten Mal auf einer Wanderung denke ich ernsthaft, dass ein solcher Schirm nützlich wäre. Weder auf PCT noch CDT hatte ich je das Bedürfnis, aber der HRP dieses Jahr ist echt eine andere Hausnummer, was kontinuierliche Sonneneinstrahlung angeht. Alex lässt uns den Schirm testen, und ich bin fast neidisch. Nur: Kaufen kann man so was hier nicht.
Das letzte Stück zum Pass ist noch einmal steil. Oben pfeift der Wind, die Aussicht ist durch Rauchschwaden getrübt. Das Licht wirkt unnatürlich gelblich, die Sonne schafft es kaum, durch den Dunst. Iiro verabschiedet sich am Pass von uns, plant aber, auf dem gleichen Campingplatz zu nächtigen. Er verschwindet verdammt schnell am Horizont, da haben wir keine Chance, mitzuhalten.
Der Abstieg beginnt hübsch, wird dann aber lang und mühsam: sumpfige Abschnitte, Wald, wieder Dirt Road. Ich will es unbedingt zum Campingplatz El Forcallo schaffen, wo eine Dusche lockt. Doch selbst auf den letzten Kilometern geht es immer wieder kurz bergauf – ein anstrengendes „Bergab“. Iiro ist längst vor uns am Ziel, frisch geduscht und entspannt, während wir uns noch über die letzten Kurven schleppen.
Umso größer die Freude, als wir endlich ankommen: Dusche, Zeltplatz und Mahlzeiten! Wir schlagen zu: einen großen Salat, ein Plato Combinado mit Eiern, Kartoffeln für mich und ein Papada-Sandwich (Schweinewamme) für Ryan. Müde, satt und zufrieden lassen wir den Tag ausklingen.
HRP Tag 18 – Gewitter
Camping El Forcallo bis Lac des Isclots: 17,7 km / 1.770 hm / 7,5 h
Auch heute starten wir erst um 7 Uhr. Die Temperaturen sind inzwischen erträglicher, also gönnen wir uns den zusätzlichen Schlaf. Zunächst folgen wir noch dem GR 11, gut markiert und einfach zu gehen. Wir passieren das Refugio de Viados, an dem eine Katze mit strahlend blauen Augen sitzt. Ihr Anblick lenkt mich so sehr ab, dass ich glatt an der richtigen Abzweigung vorbeilaufe. Vorbei geht es an den verlassenen Schuppen der Granjas de Viadós, Relikte einer Zeit, in der in den Pyrenäen noch mehr Menschen lebten und arbeiteten.
Dann beginnt der steile Aufstieg zum Port d’Aygues Tortes. Markierungen gibt es keine, nur Steinmännchen hier und da. Wir halten uns grob am Verlauf des Flusses. Unterwegs holt uns Iiro ein, obwohl er fast eine Stunde später gestartet ist – er ist einfach unglaublich schnell. Über Felsblöcke und steilen Schotter erreichen wir schließlich den Pass.
Auf der anderen Seite geht es in engen Serpentinen abwärts ins nächste Tal. Iiro zieht wieder in einem Wahnsinnstempo von dannen und es ist das letzte Mal, dass wir ihn in der Ferne verschwinden sehen. Ein entgegenkommender französischer HRP-Wanderer warnt uns vor einem toten Schaf am Fluss. Der Geruch bestätigt es wenig später. Wasser holen nur oberhalb!
Am unbemannten Refuge de Prat-Cazeneuve machen wir Mittagspause. Während wir im Schatten sitzen, ziehen dunkle Wolken auf und bevor wir lange überlegen, beginnt es, dicke Tropfen zu regnen. Wir flüchten ins Innere.
Die Hütte überrascht uns: hell, sauber, mit Holzbänken, Tischen und einem Matratzenlager im ersten Stock – die bislang gemütlichste unbemannte Hütte. Ein perfekter Ort, um ein Gewitter auszusitzen. Aber Gewitter drohten uns schon öfter und es kam nur selten dazu. Ich würde mir aber in den Hintern beißen, wenn wir diesen sicheren Ort verließen und es dann doch passiert. Ich rufe einen Wetterbericht mit meinem Garmin InReach ab, der besagt, dass das Gewitter rasch abziehen sollte.
Ein Vogel verirrt sich hinein, prallt mehrfach gegen die Scheiben. Ich fange ihn ein, setze ihn draußen unters Dach, um ihn vor dem Regen zu schützen. Ich weiß nicht, ob er sich etwas gebrochen hat und nur vom Aufprall benommen ist. Immer wieder schaue ich nach ihm, aber er bewegt sich nicht. Vier andere Wanderer kommen zur Hütte, und bis dahin ist der Vogel verschwunden. Er hat sich offenbar doch erholt. Ich bin erleichtert.
Als der Himmel wieder aufreißt, brechen wir auf. Der Weg führt als Balkonpfad am Hang entlang, unter überhängenden Felsen hindurch und durch die Reste einer alten Mine. Zerfallene Gebäude, rostige Schienen – fast wie ein Abstecher nach Moria. Kurz darauf wieder Regen, den wir unter Felsüberhängen abwarten. Der nächste Aufstieg bringt uns steil hinauf zum Lac de Caillauas, so blau wie kein anderer See bisher. Donner grollt zwischen den Gipfeln, der Schall hallt ohrenbetäubend von den Wänden zurück. Wir warten am Staudamm ab, bis die Wolken weiterziehen. Beim Aufstieg über erodierte Hänge rutsche ich plötzlich aus und schlage hart auf. Mein Knie ist blutig, der Schreck sitzt tief – aber es hätte schlimmer kommen können.
Schließlich erreichen wir den Lac des Isclots mit seinen winzigen Felseninseln. Schafe grasen friedlich, ein einsamer Wanderer liegt im Bivy am anderen Ufer. Wir stellen unser Zelt auf, gerade rechtzeitig vor dem nächsten Regen.
Dann bricht das Unwetter los: Regen, Hagel, Blitze im Sekundentakt. Donner, so laut, dass ich mir die Ohren zuhalte. Schließlich stopfe ich Loops hinein, doch die Angst bleibt. Und wir hätten so gemütlich in einer Hütte sitzen können … Stattdessen liegen wir hier, während draußen neue Bäche und ganze Wasserfälle entstehen. Wir hoffen, dass Irro es in Sicherheit geschafft hat, denn vor uns liegen zwei hohe Pässe. Ich bin froh, nicht alleine in diesem Sturm zu sein, und auch die Anwesenheit der Schafe um uns herum ist irgendwie tröstlich.
Als es nach über einer Stunde abklingt, atmen wir auf. Doch kaum ist Ruhe eingekehrt, geht es von vorn los. Wieder Blitze, wieder Donner, Wind, der das Zelt durchrüttelt. Irgendwann schlafen wir erschöpft ein. Was für eine Nacht.
Teil der Natur zu sein, bedeutet, Teil des Überlebenskampfs zu sein. Das klingt jetzt vielleicht etwas dramatisch, aber es liegt eine gewisse tiefe Zufriedenheit darin, sich auf die ersten zwei Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide zu begeben und das zu tun, wofür Menschen eigentlich gemacht sind – in Bewegung sein und flexibel Ressourcen nutzen. Alle Lebensthemen liegen auf Eis, hier draußen kümmert mich nichts weiter als Wandern, Essen, Schlafen, zusammen mit Wetter, Terrain, Höhenmetern und immer mal wieder auftretenden körperlichen Beschwerden. Ich lebe ganz im Hier und Jetzt, mit allen Herausforderungen, die das mit sich bringt.
HRP Tag 19 – Kälte, Kraxelei am Col Inférieur de Literole und ein Gewitter
Lac des Isclots bis Valle de Remuñe: 11,9 km / 1.700 hm / 7 h
Der Morgen am Lac des Isclots ist kalt, aber die Sonne blinzelt durch die Wolken. Zum ersten Mal auf dem HRP wandere ich in Leggings. Der Aufstieg zum Col des Gourgs Blancs führt über Geröll und Blockfelder. Der Weg ist aber einfach zu finden und weist keine Schwierigkeiten auf. Überreste uralter Gletscher klammern sich an die Felsen. Der Abstieg erweist sich dagegen als knifflig: leicht ins Rutschen geratenes Geröll, steil und unangenehm. Dazu fegt immer wieder eiskalter Wind über uns hinweg und meine Handschuhe kommen das erste Mal zum Einsatz. So schnell kann das Wetter hier oben kippen, vor wenigen Tagen tropfte uns noch der Schweiß vom Gesicht. Die Wolken sehen bedrohlich dunkel aus und ich befürchte, dass es anfängt zu regnen.
Wir begegnen einem Franzosen, der den HRP in nur 20 Tagen laufen will. Elf Tage hat er schon hinter sich, lutscht entspannt an einem Lolli und springt bergab wie eine Gams, als wäre dies alles nicht mehr als ein Spaziergang für ihn. Für uns geht es weiter hinauf zum Col du Pluviomètre, benannt nach einem alten Niederschlagsmesser am Grat. Der Aufstieg ist dieses Mal kurz und einfach.
Nun wartet noch ein heikler Abstieg zum Refuge du Portillon. Nur 1,7 Kilometer, aber ein Terrain aus Felsblöcken, das langsames, vorsichtiges Vorantasten von Steinmännchen zu Steinmännchen erfordert. Böiger Wind bringt mich immer wieder aus dem Gleichgewicht, doch schließlich erreichen wir die Hütte. Drinnen: Wärme, heiße Schokolade, Omelette. Draußen: ein Mix aus Wolken, Regen und Sonne. Wir hoffen auf Besserung, denn Col Inférieur de Literole – mit 2.983 Metern der höchste Pass des HRP – liegt in tief hängenden Wolken. Als wir gerade loswollen, prasselt plötzlich Regen nieder. Mal wieder Glück gehabt.
Wir warten, spielen ein paar Runden Uno, und als es heller wird, wagen wir es. Es sollte etwa drei Stunden dauern, bis wir das nächste Tal erreichen, und damit Sicherheit und Zeltgelegenheiten. Wir hoffen, dass das Wetter bis dahin hält. Der Aufstieg beginnt mit steilen Passagen oberhalb des Stausees. Wir finden den richtigen Pfad wohl mal wieder nicht sofort und unternehmen dadurch einige waghalsige Kraxeleien, die wahrscheinlich nicht nötig gewesen wären. Der richtige Trail verläuft dann recht geradlinig über die übliche Mischung aus Blockfeldern, Geröll und Schotter, am Ende sogar über ein Schneefeld. Zwei entgegenkommende Wanderer warnen uns: „Die schlimmste Erfahrung unseres Lebens“, erzählen sie, dass sie aber auch nicht sehr erfahren seien. Sie berichten uns auch von sehr starkem Wind am Pass, was ein guter Hinweis ist, um uns entsprechend darauf vorzubereiten – geistig, aber auch indem wir alles wegpacken, was wegfliegen oder herumflattern könnte.
Wir erreichen den Pass ohne große Schwierigkeiten, aber dann wird es haarig. Auf der anderen Seite wirkt es, als gäbe es gar keinen Abstieg – nur einen Abgrund. Ryan lässt Rucksack und Stöcke zurück und geht ein Stück am Grat entlang, um zu schauen, wo es weitergehen könnte. Aus der Richtung kann ich den Wind laut sausen hören, der sich in einer Art Tunnel zu fangen scheint, ich bin also nicht besonders motiviert, dort hinüberzukraxeln. Ryan kommt zurück und sagt, er habe den Abstieg gefunden, es sei gar nicht so wild, aber die Querung dorthin erfordere einen mutigen Schritt am Abgrund. Ich kann zwar nicht glauben, dass es einen vernünftigen Abstieg geben soll, denn es deutet so gar nichts darauf hin, aber wir packen die Stöcke weg und machen uns auf den Weg.
Doch die kurze Querung am Abgrund bringt mich in Schockstarre, während der Wind an mir zerrt. Wie so oft sind es nicht die Kraxeleien, sondern die Traversen, die mir Angst machen. Ich warte auf eine Pause der Böen, und mit Ryans Zuspruch löse ich mich vom Fels. Dahinter: steiler, schottriger, kraxeliger Abstieg, aber machbar. Hier fühle ich mich wieder wohl. Wir gelangen zu den Seen unterhalb des Passes, während sich die Wolken um uns schließen. Alles wirkt grau, verwaschen, und zwischen den Felsen locken trügerische Steinmännchen in alle Richtungen. Wir verlieren Zeit, korrigieren immer wieder den Kurs, während Regen einsetzt. Alles, was wir machen können, ist, so schnell und dabei so bedacht wie möglich unseren Weg durch die Felsen zu finden, die zunehmend rutschiger werden.
Donner grummelt bedrohlich, und während wir uns beeilen, ins Tal zu kommen, fängt es auch an zu blitzen und der Regen wird stärker. Ich muss seit Stunden pinkeln, aber ich ignoriere alles, auch dass ich in Fleecejacke UND Regenjacke viel zu sehr schwitze, und fokussiere mich darauf, so schnell wie möglich herunterzukommen und dabei nicht den falschen Weg zu nehmen. Wie aus dem Nichts erscheinen plötzlich rote Punkte und Pfeile als Markierungen, was uns den Hintern rettet. So muss ich nicht jedes Mal kontrollieren, ob dieser oder jener Steinmann uns nur verarschen will oder tatsächlich in die richtige Richtung führt. Das ist gerade im stärker werdenden Regen hilfreich, wo es schwer wird, das Handydisplay zu bedienen.
Schließlich erreichen wir das Tal und eine erste Zeltmöglichkeit, die wir sofort in Besitz nehmen. Klatschnass bauen wir das Zelt im strömenden Regen auf. Dann bricht das nächste Gewitter los: Regen, Hagel, Donner. Doch dieses Mal fühlt es sich weniger bedrohlich an als am Vortag – vielleicht habe ich mich schon etwas an die Gewalt der Elemente gewöhnt. Meine Haare tropfen vor sich hin, unsere Rucksäcke und Schuhe sind durchweicht. Ich entledige mich meiner nassen Kleidung, bis auf Socken, Unterhose und Shirt. Am besten trocknen Sachen bei einem solchen Wetter am Körper, auch wenn das erst mal etwas unangenehm ist. Dann schlüpfe ich in meinen warmen Schlafsack. Zwei weitere Gewitter ziehen in der Nacht über uns hinweg. Wenig Schlaf, aber immerhin kein Sturm wie gestern.
HRP Tag 20 – Nearo nach Benasque: Halbzeit
Valle de Remuñe bis Straße A-139: 5,2 km / 40 hm / 2,5 h
Der Morgen im Valle de Remuñe ist kalt und feucht. Alles um uns herum tropft, auch unsere Ausrüstung. Zum ersten Mal auf dieser Tour hole ich die Daunenjacke hervor, an die ich die letzten Wochen keinen einzigen Gedanken verschwendet habe. Sie ist mein einziges warmes Kleidungsstück, das noch trocken ist. Die Wolken hängen tief, doch die Sonne bricht kurz hervor und lässt das Tal in sattem Grün leuchten. Magisch, aber die Freude hält nicht lange. Vor uns liegt noch ein Canyon mit nassen, rutschigen Felsen. Meine Knie schmerzen, meine Schuhsohlen lösen sich nach nur 300 Kilometern ab. Neue Schuhe warten hoffentlich in Benasque auf mich. Ich vertraue meinen Füßen nicht auf dem feuchten Untergrund, und insgesamt bin ich heute nicht auf der Höhe. Ich bin erschöpft, fühle mich schwach, krieche langsam und vorsichtig vor mich hin.
Für die 5 Kilometer bis zur Straße brauchen wir fast drei Stunden. Am Rand der A-139 wird es wieder kalt, die Sonne verschwindet, Regen fällt. Der Bus ist längst weg, der nächste kommt erst in zweieinhalb Stunden. Daher ist Hitchhiking unsere beste Chance. Es dauert ein wenig, denn es gibt hier zwar einen großen Parkplatz, aber die meisten Autos kommen und verlassen ihn nicht. Dann hält ein rotes Auto mit zwei Spanierinnen aus Barcelona – sie nehmen uns die neun Kilometer mit nach Benasque.
Die Stadt ist hübsch: schmale Gassen, steinerne Häuser mit Schieferdächern, entspannte Atmosphäre. Viele Bergsteiger starten von hier ihre Touren auf den Aneto, den höchsten Berg der Pyrenäen. Für uns bedeutet Benasque: Resupply, Wäsche, Erholung. Endlich ergattern wir auch wieder ein Hotelzimmer – zum ersten Mal seit Saint-Jean-Pied-de-Port ist nicht alles ausgebucht. Vielleicht hat der Wetterumschwung einige Stornierungen bewirkt. Wie auch immer, ich bin dankbar. Wir können sogar schon mittags einchecken.
Resupply ist leicht, denn es gibt zahlreiche Supermärkte und Outdoor-Stores. Meine bestellten Schuhe sind zwar nicht angekommen, doch wie durch ein Wunder finde ich im ersten Laden genau mein Modell in meiner Größe – und sogar reduziert. Sofort gekauft! Die alten schicke ich nach Deutschland zurück, in der Hoffnung auf Reklamation.
Waschen erweist sich als schwieriger: Der einzige Waschsalon hat nur zwei Maschinen, beide belegt. Wir gehen nebenan essen, warten, und sichern uns schließlich eine Maschine. Nach zwölf Tagen ohne richtige Wäsche ist es höchste Zeit. Die gestrige Nässe hat unsere Kleidung endgültig in einen stinkenden Haufen verwandelt.
Benasque markiert unseren Halbzeitpunkt auf dem HRP. Nur noch ein schwieriger Abschnitt liegt vor uns, danach werden die Berge niedriger und die Wege leichter. Ein Grund zum Feiern – auch wenn es mir am Abend miserabel geht. Übelkeit, Schwäche, kaum Schlaf. Städte rauben mir ohnehin oft die Ruhe.
Am nächsten Tag geht es mir etwas besser, doch ich bin weiterhin erschöpft. Das Hotel ist ausgebucht, nur noch teure Zimmer sind frei. Da hilft Ryans Charme: Er freundet sich mit der Besitzerin Maria an, die uns ein Zimmer gegenüber vermittelt. Sie spricht kein Englisch, er kein Spanisch – und doch klappt es. Für mich ein Segen: ein weiterer Tag Ruhe, während draußen das Wetter unbeständig bleibt. Verrückterweise hat dieses neue Zimmer sogar eine Klimaanlage, die wir aktuell wirklich nicht benötigen. Das hält Ryan jedoch nicht davon ab, sich trotzdem von ihr kalte Luft ins Gesicht blasen zu lassen. Wer weiß, wann er die nächste Klimaanlage in Europa zu Gesicht bekommt.
Wir verbringen unsere Zeit damit, durch die Gassen von Benasque zu schlendern und uns mit frischen Churros samt dicker, heißer Schokolade und den besten Tapas der ganzen Tour den Bauch vollzuschlagen. Meine Favoriten: Longaniza (eine Knoblauchwurst, ähnlich wie Chorizo, in Weißwein) und Albóndigas (spanische Fleischbällchen in einer würzigen Tomatensoße).
Hier geht’s zum vierten Abschnitt auf dem HRP:
HRP 4: Vom Aneto ins Nebelreich Andorras – Benasque bis El Serrat

















































































































