In der Woche zwischen Benasque und El Serrat kippt die Hitzewelle endlich und die Pyrenäen zeigen sich von ihrer kontrastreichen Seite. Wir wandern an klaren Bergseen und auf steilen Graten entlang, zählen Schafe, verlieren im Nebel Abzweige (und einmal unseren Käse an einen sehr entschlossenen Hund), wärmen Hände und Seele bei heißer Schokolade, flüchten vor Gewittern – und erreichen schließlich mit wunden Füßen Andorra.
HRP Tag 21 – Zwischen Aneto und Col de Mulleres
Straße A-139 bis Hospital de Vielha: 20,5 km / 1.420 hm / 8,5 h
Nach unserer Pause in Benasque sind wir wieder voller Energie und Tatendrang. Mit dem 9-Uhr-Bus fahren wir zurück zum Trail, wo wir ihn verlassen hatten, und wandern von dort aus an Murmeltieren vorbei in Richtung La Besurta. Hier endet die Straße an der letzten Bushaltestelle, die eine weitere Ladung Tageswanderer ausspuckt. Das Wetter ist ein Geschenk: Die Sonne scheint, die Wolken wabern dekorativ um die Berggipfel, ohne dass es zu heiß wird. Die Hitzewelle scheint ausgestanden zu sein.
Sanft steigt der Weg an, bis wir einen hübschen Wasserfall erreichen mit dem Aneto im Hintergrund, dem höchsten Berg der Pyrenäen. Wir durchschreiten eine grasige Ebene mit einem Fluss, der von den zugegebenermaßen nur noch bescheidenen Gletschern des Anetos gespeist wird. Dann wird es steiler und die Wolken verschlucken uns. Plötzlich sehen wir kaum mehr 50 Meter weit, Wanderer tauchen geisterhaft aus dem Grau auf und verschwinden wieder. Nach einem Abzweig wird es einsamer, und immer wieder öffnen sich kurze Fenster im Nebel, die den Blick auf die sagenhafte Felslandschaft freigeben.
Wir kraxeln über Felsen zu einem kleinen, im Nebel fast unsichtbaren See. Es ist kalt, ich ziehe die Daunenjacke an. Doch während wir bei Sandwiches unsere Mittagspause genießen, lichtet sich der Dunst, und die Sonne legt die umliegenden Gipfel frei. Der weitere Aufstieg belohnt uns mit grandioser Aussicht: gezackte Grate, der Doppelgipfel des Pico Forcanada und ein Wolkenmeer unter uns.
Erst gehen wir über Felsplatten, dann über große Felsblöcke, zwischen denen die Route nicht ganz leicht zu finden ist. Daher gilt es, einfach eine eigene Linie zu finden, an deren Ende wir den Gipfel des Tuc de Mulleres (3.010 m) erreichen. Von hier reicht der Blick ins Mulleres-Tal mit seinen Seen, scharfen Felskämmen, über die sich die Wolken schieben, und natürlich zurück zum Aneto.
Wir treffen ein Paar aus London, das von der anderen Seite des Col de Mulleres gekommen ist, zu dem wir nun absteigen. Wir wissen, dass die ersten Meter vom Pass hinab etwas haarig sind, und sind froh, ihnen folgen zu können, da sie die Route ja schon kennen. Die Linie der beiden sieht jedoch schwierig aus, daher entscheide ich mich für eine etwas einfacher aussehende, die auch eher der Linie auf meiner Karte entspricht. Bedacht und vorsichtig klettern wir ein paar Meter über ein paar ausgesetzte Felsen hinab. Dann gibt es wieder einen steilen Pfad durch den Schotter. Wir werfen einen Blick zurück zum Pass und von hier sieht es schier unmöglich aus, dort hinaufzukommen. Es ist faszinierend, wie sich dann beim Näherkommen doch immer wieder etwas ergibt, und am Ende ist es oft weniger schlimm, als es aussieht.
Der Abstieg zieht sich über Felsblöcke, während uns Steinmännchen mehrmals in die Irre führen. Schließlich folgen wir einem Bach, der sich in Kaskaden ins Tal stürzt; Stahlseile helfen beim Hinunterklettern. Plötzlich hören wir Glocken und blicken auf. Am Hang gegenüber breitet sich die größte Schafherde aus, die ich je gesehen habe – Hunderte Tiere, die wie ein Schwarm weißer Punkte über die Wiesen wandern. Wer Schäfchen zählen möchte, ist hier genau richtig.
Im Tal gelangen wir auf eine Ebene, auf der sich einige flache Plätze für ein Zelt finden lassen. Leider hole ich mir bei einer Flussüberquerung zu unserem auserkorenen Platz nasse Füße. Aber meine neuen Schuhen funktionieren hervorragend, ich trage das erste Mal die neue Version meines bevorzugten Salomon-Modells und bin bisher hochzufrieden. Heute tun mir nicht mal die Füße am Ende des Tages weh.
Es wird bitterkalt, sobald die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist. Endlich darf mein Schlafsystem zeigen, was es kann: Zum ersten Mal ziehe ich den Reißverschluss meines -5°C-Komforttemperatur-Schlafsacks komplett zu und genieße die wohlige Wärme.
HRP Tag 22 – Lac de Mar und Aigüestortes Nationalpark
Hospital de Vielha bis Lac deth Cap de Rencules: 18,7 km / 1.810 hm / 7,5 h
Der Morgen beginnt wieder kühl – in Leggings und Daunenjacke zu starten, ist nun Standard. Nach den Hitzewellen der letzten Tage empfinde ich das jedoch als wohltuend. Weniger angenehm ist, dass meine Schuhe immer noch nass vom Vortag sind. Vom Parkplatz am Hospital de Vielha steigen wir wieder in die Berge auf. Der GR 11 begleitet uns zunächst mit seiner klaren Markierung und einem angenehm laufbaren Pfad, sodass wir flott vorankommen. Das ändert sich natürlich wieder, sobald wir uns vom GR 11 verabschieden, und die Wegführung wird wieder anspruchsvoller.
Wir passieren mehrere Seen und erreichen schließlich den Pass Colhada de Lac de Mar. Von hier sehen wir den Lac de Rius hinter uns und den Lac de Mar vor uns – ein perfekter Ort für unsere Mittagspause. Der Lac de Mar liegt wie ein himmlisches Juwel inmitten der Felsen, auch wenn er dieses Jahr sichtbar wenig Wasser führt. Ryan springt für ein kurzes Bad hinein, ich bleibe lieber draußen. Ich kann der Romantik vom Bad in kalten Bergseen nicht viel abgewinnen, wenn die Lufttemperatur kein Schweißtreiben produziert. Die Wegführung am See entlang ist wie üblich verwirrend und felsendurchsetzt.
Der Abstieg zum Refugio de la Restanca ist wieder langsam, führt er uns doch über steile Felsstufen, die wir mit entsprechender Umsicht behandeln. Wir erreichen den Stausee Lac de la Restanca und damit das Refugio, wo wir uns eine Cola im Schatten gönnen. Doch der Zucker rächt sich: Beim folgenden steilen Aufstieg zum nächsten See beginnen meine Beine zu zittern – ein Muster, das ich in letzter Zeit immer häufiger nach süßen Getränken bemerke. Nach einer kurzen Pause mit Nüssen, um den Kohlenhydraten etwas entgegenzusetzen, geht es wieder besser.
Viele Wanderer sind hier unterwegs, und die schmalen Pfade machen das Begegnen oft knifflig, zumal kaum jemand die einfache Regel „bergauf hat Vorrang“ beherzigt. Erst am späten Nachmittag, als die Menge sich lichtet, wird es ruhiger.
Der nächste Pass ist vergleichsweise leicht, und oben betreten wir für ein kurzes Stück den Parc Nacional d’Aigüestortes i Estany de Sant Maurici. Zerklüftete Gipfel, ein Netz aus Seen – ein faszinierender Anblick, den wir vom nächsten Pass noch einmal ausgiebig bestaunen. Dann steigen wir zu einem weiteren See ab, wo wir einen perfekten Zeltplatz finden.
Auf dem HRP jagt ein wunderschöner Tag den anderen, und mit dem kühleren Wetter lässt sich die Schönheit der Pyrenäen jetzt umso besser genießen.
HRP Tag 23 – Von Cowboyhüten zu Kuhglocken
Lac deth Cap de Rencules bis Estany Rosari de Baciver via Salardú: 27,2 km / 1.170 hm / 7,5 h
Der Tag beginnt mit einem hübschen Sonnenaufgang: Der Himmel färbt sich rot hinter den Bergen, und wir brechen früh auf, um zum Mittagessen in Salardú zu sein. Der Weg führt zunächst an einem See mit Staudamm vorbei; dann erreichen wir eine Straße, der wir 10 Kilometer lang folgen. Mein Körper schaltet in den Autopilot, während wir zusammen unser Hörbuch weiterhören.
Zur Mittagszeit erreichen wir Salardú – und stolpern mitten hinein in ein Country-Rock-Festival. Line-Dancing, ein mechanischer Rodeo-Bulle, Cowboyhüte und -stiefel, und so viele amerikanische Flaggen, wie ich sie außerhalb der USA noch nie gesehen habe. Als wäre das hier eine Parallelwelt. Passend dazu treffen wir auf den ersten anderen US-Amerikaner auf dem HRP: Jackson aus Iowa. Corn Dogs gibt es aber keine, sehr zu Ryans Enttäuschung.
Nach diesem skurrilen Spektakel widmen wir uns dem Wesentlichen: Essen. Das von anderen Wanderern empfohlene Café ist geschlossen, also landen wir woanders und bestellen Burger. Anschließend erledigen wir unseren Resupply in dem kleinen Laden, der trotzdem alles hat, was wir mögen: Käse, Salami, Wraps und Baguettes. Einer der großen Vorteile am Wandern in Europa: weniger Süßkram, mehr herzhafte Snacks.
Am Nachmittag steigen wir wieder auf. Zuerst entlang der Straße, was unangenehm ist, da es keinen Seitenstreifen gibt. Zum Glück zweigen wir bald auf einen schattigen Waldpfad ab. Das letzte Stück ist steil und bringt uns zur Kirche von Bagergue, wo eine Bank im Schatten wie für uns bereitsteht. Wir nehmen die Einladung an, verschnaufen und trocknen, denn heute ist es wieder ziemlich warm geworden.
Danach geht es auf einer Dirt Road weiter, angenehm steigend, nur gelegentlich von Autos unterbrochen. Schließlich erreichen wir ein Skigebiet, das uns zu einem ersten See führt. Von dort geht es hinauf auf ein Plateau mit zwei weiteren Seen. Am letzten See schlagen wir unser Zelt auf – perfekt gelegen: an der letzten Wasserquelle für eine Weile und direkt unterhalb des morgigen Gipfelanstiegs, den wir schon vor Augen haben. So platziert, dass wir morgen rechtzeitig im nächsten Dorf zum Mittagessen eintreffen können – in einem Restaurant, das uns schon wärmstens empfohlen wurde.
Kuhglocken bimmeln auf der anderen Seite des Sees, Murmeltiere pfeifen in den Felsen, Enten fliegen über uns hinweg. Ein idyllisches Ende nach einem Tag voller Kontraste.
HRP Tag 24 – Gratwege, Blockfelder und ein „Minimarkt“ im Körbchen
Estany Rosari de Baciver bis Bassa de Sobriu: 18 km / 1.390 hm / 8 h
Der Tag beginnt mit einem extrem steilen Aufstieg zum Tuc de Marimanya (2.662 m). Einen Weg gibt es nicht, nur vereinzelte Steinmännchen. Wir schlagen uns durch den grasbewachsenen Hang in den kürzesten Serpentinen, die ich je erlebt habe. Eine Gruppe Bergziegen beobachtet uns dabei, als wollten sie fragen, warum wir so langsam sind. Der Blick zurück entschädigt: Unter uns glitzern die Seen, an denen wir gestern vorbeikamen – bis zum Übernachtungsplatz –, darüber hinaus ragen Gipfel und Grate in alle Richtungen.
Einem dieser Grate folgen wir zum nächsten Gipfel und diese Gratwanderung ist ein echter Höhepunkt. Die Gratwanderung eröffnet grandiose Tiefblicke auf einen weiteren See und wir setzen unsere Schritte vorsichtig am Abhang entlang. Der Rest des Grats ist einfacher, es gilt nur, ein paar kürzere Boulderfields und Blaubeerbüsche zum Coll d’Airoto hinüber zu queren.
Doch der Genuss endet abrupt. Ein riesiges Blockfeld liegt vor uns, mit gewaltigen Felsen, dann kleineren, aber nicht weniger mühsamen. Die Orientierung ist schwierig in diesem Labyrinth, die vorsichtige Kraxelei frustrierend langsam, und die Passage scheint kein Ende zu nehmen. Als wir merken, dass wir zu niedrig geraten sind, kraxeln wir extrem steil hinauf über Gras, Felsen und durch vereinzelte Bäume. Zum Glück im Aufstieg und nicht im Abstieg.
Nach fast vier Stunden für gerade einmal fünf Kilometer erreichen wir den Pass Collado del Clot de Moredo. Eine echte Plackerei. Von hier geht es steil, aber einfacher in ein Tal mit einem See hinab. Endlich wieder ein klarer Pfad, dem wir ohne größere Schwierigkeiten folgen können.
Wir kürzen eine Dirt Road über steile Pfade ab, es wird heißer und wir immer hungriger. Zum Glück wissen wir seit gestern Abend, dass es im Refugi d’Alós d’Isil heute kein Essen gibt – Ruhetag. So groß die Enttäuschung darüber auch war, so haben wir uns nicht voller Vorfreude beeilt, um dort Mittag zu essen. Stattdessen machen wir unsere Mittagspause im Schatten am Bach.
Im Dorf Alós d’Isil erwartet uns dennoch eine kleine Überraschung: Ein junger Mann sitzt am Refugi, verschafft uns kalte Getränke und präsentiert uns seinen „Minimarkt“ – ein Körbchen mit Produkten. Wir kaufen Salami, bekommen sogar einen Refill für unsere Gaskartusche (in Salardú gab es nichts) und Ryan seine heiß ersehnten Zigaretten. Ein wahrer Segen! Auch wenn wir heute hier nicht die ersehnte Mahlzeit bekommen, so hat sich der Besuch trotzdem sehr für uns gelohnt. Der Verkäufer, Aniol, erzählt uns seine Geschichte: Aufgewachsen in den Pyrenäen, drei Jahre per Rad durch Südamerika gefahren – von Ushuaia bis Mexiko, wo die Reise mit Denguefieber endete. Mit 18 wanderte er selbst den HRP – in 43 Tagen, inklusive sämtlicher Gipfel am Wegesrand. Beeindruckend, was mich mächtig beeindruckt. Seit zehn Jahren ist er jetzt hier.
Wir verabschieden uns und steigen in der Nachmittagshitze erneut steil auf. Der Schweiß läuft uns über das Gesicht, Pferde blockieren immer wieder den schmalen Pfad, aber wir finden stets einen Weg um sie herum. Schließlich erreichen wir ein sumpfiges Plateau mit einem Bach und einem tosenden Wasserfall über uns. Dorthin führt unser Weg noch – zu einem See, an dem wir zelten wollen.
Am See angekommen gönnen wir uns ein erlösendes Bad, nach diesem Schweißtag ein Muss. Allerdings lebt das Gras um uns herum – Tausende Grashüpfer, Fliegen und was sonst noch kreucht und fleucht, haben sich hier versammelt. Manche von ihnen stechen, eine Fliege hole ich angewidert hinter meinem Ohr hervor. Ich flüchte ins Zelt, während Ryan draußen kocht. Ihm macht das Viechzeug weniger aus. Wir sind heute sehr hungrig und in Anbetracht meiner Snacks weiß ich nicht, ob wir es wirklich bis zum nächsten geplanten Resupply in Andorra schaffen oder ob wir doch einen Zwischenstopp in Tavascan einlegen müssen.
HRP Tag 25 – Drei Pässe und ein Käse-Drama
Bassa de Sobriu bis Riu de Guerosso: 15,2 km / 1.280 hm / 7 h
Der Morgen beginnt merkwürdig: Kaum aus dem Schlafsack gekrochen, hören wir in der Nähe seltsame Laute. Eine Art lautes, heiseres Keuchen, fast wie eine Katze, die ein Haarbällchen hervorwürgt, nur viel lauter. Ein Tier muss es sein, aber welches? Wir spähen in die Richtung, aus der es kommt, können aber nichts entdecken. Auch andere Zeltende am See haben es gehört, immerhin bilden wir uns das nicht ein. Das Rätsel bleibt ungelöst. Erst später erfahre ich: Es waren tatsächlich Rehe. Sie „bellen“ zur Warnung – ein Laut, der so gar nicht zum zarten Reh-Image passt.
Vor uns liegen heute drei Pässe: Coll de la Cornella, Coll de Curios und Coll de Calberante. Der Weg hinauf ist überraschend einfach: gelbe Markierungen, klare Spur, keine Probleme. Nur der Abstieg vom ersten Pass ist extrem steil und voller Schotter, also entsprechend langsam. Doch ansonsten reiht sich ein schöner See an den nächsten.
Mittagspause machen wir am Refugi Enric Pujol, eigentlich nur eine Biwakschachtel, aber gemütlich. Dann taucht ein Hund auf und schnappt sich unseren restlichen Käse. Mit der ganzen Ziplocktüte im Maul läuft er davon, während seine Besitzer ungerührt zusehen. Fassungslos bleiben wir zurück, mit Trauer über und Frustration über den verlorenen Käse, den wir uns vom Munde abgespart hatten, damit er bis zum nächsten Resupply reicht.
Als wir aufbrechen wollen, beginnt es zu regnen. Ein tschechisches Paar – Dominika und Tomáš – trifft gerade ein, besseres Timing hätten sie nicht haben können. Wir warten den Schauer in der Hütte ab, unterhalten uns mit ihnen über ihre Hyperlight-Rucksäcke und steigen dann weiter ab, vorsichtig über die vom Regen glitschigen Felsen, vorbei an kleinen Wasserfällen.
Unten erreichen wir die verstreuten Steinhäuser von Noarre. Sommerresidenzen ohne Straßenanschluss, einsam, aber idyllisch. Außer uns scheint niemand hier zu sein. Wir überlegen, ob wir nach Tavascan absteigen sollten – nicht wegen Resupply, wir haben doch noch ausreichend Essen dabei, sondern wegen des Wetters. Für morgen ist Dauerregen angesagt. Doch wir wollen es nicht glauben. Es kann unmöglich den ganzen Tag regnen, oder? Bisher war es meist schlechter angesagt, als es eigentlich war. Also gehen wir weiter.
Der Aufstieg beginnt im Regen, doch wir können uns unter Kiefern und Birken unterstellen, geschützt von einem Baum und unserer Tyvekplane. Nach einer Pause klart es wieder auf, und wir erreichen eine sumpfige Ebene, die im Sonnenlicht glitzert. Das Gras ist saftig grün, Wasserläufe glänzen im Licht – fast wie eine andere Welt. Schließlich kommen wir zu einem kleinen See. Angesichts des angekündigten Gewitters für die Nacht entscheiden wir, hier unser Zelt aufzubauen. Zwischen Bäumen fühlen wir uns besser geschützt als auf den höher gelegenen, offenen Flächen.
Ganz glücklich sind wir nicht, den Tag bei noch halbwegs freundlichem Wetter zu beenden, aber es ist die vernünftigere Entscheidung. Tatsächlich prasselt in der Nacht immer wieder starker Regen auf unser Zelt, Blitze flackern am Horizont, aber ohne dass Donner folgt. Dank Ohrstöpseln schlafen wir trotz des lauten Regens erstaunlich gut.
HRP Tag 26 – Regen, Hüttenwärme und ein Gewitterfinale
Riu de Guerosso bis Cabana de Basello: 21,2 km / 1.630 hm / 8 h
Nach einer regenreichen Nacht wache ich früh auf. Über mir funkeln die Sterne – ein verheißungsvoller Start. Beim ersten Tageslicht steigen wir zum Pass auf, den wir nach einer Stunde ohne Schwierigkeiten erreichen. Auf der anderen Seite liegt der große Lac de Certascan. Eine italienische Familie kommt uns entgegen, sie wollen zum Pic de Certascan, der vom soeben bewältigten Pass in einer Stunde bestiegen werden kann. Wir hingegen haben nur ein Ziel: dem drohenden Wetter davonzulaufen. Die Wolken vor uns wirken bedrohlich, auch wenn hier noch die Sonne scheint.
Der Abstieg zum See führt uns an Pferden mit ihren Fohlen vorbei, die friedlich auf einer Wiese grasen, die von in der Sonne glitzernden Bächen durchzogen ist. Am Refugi de Certascan empfängt uns Wärme – nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Zwei Frauen begrüßen uns herzlich, wir bestellen heiße Schokolade, während draußen der Regen niedergeht, und denken mitleidig an die Familie auf dem Gipfel. Unsere Sorgen um Strom schwinden: Wir dürfen Geräte aufladen. Als uns Lasagne, Longaniza mit Kartoffeln, Karottenkuchen und Zimtschnecke serviert werden, spielen wir mit dem Gedanken, einfach hierzubleiben. Es ist erst 9:30 Uhr, und wir sitzen gemütlich im Trockenen, spielen Uno und sehen dem Regen zu.
Doch die Hütte füllt sich: Erst eine spanische Familie, dann kehrt auch die italienische zurück, bald ist es laut und wuselig. Wir packen unsere Sachen und nutzen eine Regenpause. Nur um kurz darauf in den nächsten Schauer zu geraten. Jetzt hat die italienische Familie vielleicht Mitleid mit uns. So wendet sich das Blatt. Vorsichtig steigen wir über rutschige Felsen in den Wald hinab. Inzwischen sind wir gut durchnässt.
Zwischen den Bäumen schlagen wir für eine Weile das Zelt auf, um aus dem Regen zu kommen. Es ist noch nass von letzter Nacht. Wir essen ein zweites Mittagessen, warten – und tatsächlich klart es auf. Weiter geht’s: erst sanfte Serpentinen, dann steiler hinauf, schwül und dampfig, meine Brillengläser beschlagen. Wir wollen unbedingt noch bis zur Biwakschachtel Refugi Baborte kommen, bevor der nächste Schauer losgeht.
Es klappt fast: Kurz vor dem Coll de Sellente regnet es erneut. Ich stöhne, gerade erst ist alles getrocknet. Also Regenjacken wieder an. Immerhin hält der Regen nicht lange an. Als wir am Baborte-See und der orangen Biwakschachtel ankommen, müssen wir jedoch feststellen, dass diese bereits gut gefüllt ist. Mindestens fünf Personen sind bereits drin. Ich mache mir nicht die Mühe, mehr herauszufinden. Es ist definitiv zu eng da drin, selbst wenn noch Platz wäre. Die Schachtel hat Platz für neun Personen. Wenn es gerade schütten würde, würde ich mich definitiv noch hineinquetschen.
Wir setzen uns wie Streuner vor die Hütte, trocknen unser Zelt ein wenig und essen was, bevor wir weiterziehen. Der Schweizer Tim steckt kurz den Kopf heraus, erzählt, dass er mit seiner Mutter unterwegs sei, sie es aber gemütlich angingen. Anscheinend ist auch das tschechische Paar hier, ich konnte ihre weißen Hyperlight-Rucksäcke im kleinen Vorraum erkennen.
Dann machen wir uns wieder auf den Weg. Unser Ziel ist es, die Bäume und hoffentlich einen passabel geschützten Zeltplatz zu erreichen, bevor es wieder losgeht. Bald erreichen wir ein kleines Plateau mit einer Hütte, die allerdings höchstens als Notfallunterkunft taugt. Ein Strohbett ist alles, was sich in der dunklen Hütte befindet, als wir die Tür öffnen. Da tanzen einem die Mäuse in der Nacht auf der Nase herum. Wir bevorzugen das Zelt und finden in den Bäumen bei der Hütte genug Platz für unser Zelt.
Dann beginnt das nächtliche Schauspiel: Regen, gefolgt von starken Gewittern, die direkt über uns hinwegziehen. Dazwischen kurze Pausen, die wir für einen schnellen Toilettengang nutzen. Auch die merkwürdigen Laute, die wir schon am Vortag gehört hatten – das „Bellen“ der Rehe – begleiten uns. Schließlich schlafen wir trotz allem, eingehüllt in Regen und Donner.
HRP Tag 27 – Nebelwanderung nach Andorra
Cabana de Basello bis El Serrat: 23,2 km / 1.500 hm / 8 h
Der Tag beginnt vielversprechend: Die letzten grauen Wolken mit ein paar Regentropfen weichen blauem Himmel. Wir steigen ab, nehmen allerdings den falschen Weg und müssen einen kleinen Umweg einbauen, bevor wir wieder auf den HRP stoßen.
An der Straße mit Parkplatz beginnt der nächste Aufstieg. Mein Körper fühlt sich heute müde an, obwohl ich gestern eigentlich gut gegessen habe. Am Port de Boet betreten wir wieder Frankreich und landen zugleich in den Wolken. Von hier an verbringen wir den gesamten Tag im Nebel: nasskalt, ohne Sicht.
Wir verpassen erneut einen Abzweig und steigen weiter ab, als nötig gewesen wäre. Als wir es merken, ist es bereits zu spät. Am Ende gelangen wir über einen anderen Weg zurück zum HRP, der auf dem Hexatrek verläuft. Wir addieren heute ordentlich Zeit und Höhenmeter zu einer eigentlich einfachen Route. Das Hörbuch, in das wir vertieft sind, und die schlechte Sicht tragen sicher ihren Teil bei. Ryan ist entsprechend grummelig. Ich nehme es gelassener: Passiert ist passiert.
Die Bedingungen bleiben mühsam. Meine Brille beschlägt, wird von kleinen Wassertropfen überzogen. Schließlich nehme ich sie ab und verlasse mich alleine auf meine Augen, die gerade so ausreichen, um den Boden scharf genug zu sehen. Mittagspause gibt es nicht – zu kalt, zu nass. Ein schneller Snack muss reichen, um Ryans „Hangry“-Modus zu entschärfen.
Da alles nass ist, brauche ich deutlich länger als Ryan. Ich befürchte, bei jedem Schritt auf einen Fels auszurutschen, also gehe ich mit Vorsicht. Eine Flussüberquerung im Tal macht unsere Füße endgültig nass. Auch der folgende steile 200-Höhenmeter-Aufstieg zum HRP bleibt feucht – das Gras ist so nass, dass unsere Füße keine Chance haben, ein wenig zu trocknen. Ich nehme es pragmatisch: Nass sind wir ohnehin schon. Immerhin bin ich hier wieder deutlich schneller unterwegs. Wenn ich nicht gerade müde und ausgelaugt bin, bin ich bei den Aufstiegen schneller, Ryan dafür bei den Abstiegen. Ausgleichende Gerechtigkeit, wie ich finde.
Am Port de Rat, der Grenze nach Andorra, gibt es wieder keine Aussicht. Trotzdem: Andorra ist mein 48. Land. Gerade rechtzeitig vor einem heftigen Regenschauer kommen wir am Restaurant im Skigebiet an. Mir ist kalt und ich bin froh, ins Warme zu kommen. Ich wärme mich an einer heißen Schokolade, wir essen Burger und ich versuche herauszufinden, wie wir nach La Massana kommen. Es stellt sich jedoch heraus, dass der Bus erst vom 6 km entfernten El Serrat abfährt. Wir warten, bis es aufhört zu regnen, und machen uns dann auf den Weg. Der Abstieg ist unerwartet hübsch und das Wetter hält.
Ganz knapp verpassen wir den Bus in El Serrat. Ich bin frustriert: Die geplanten 15 km sind zu 21 km geworden, mit zusätzlichen Höhenmetern, die Füße wundgelaufen von ständiger Nässe, und jetzt das. Ich will endlich ins Hotel und unter eine Dusche. Wir versuchen es also mit Hitchen, bis der nächste Bus kommt, was alle halbe Stunde passieren soll.
Ein freundlicher Mann mit VW-Bus nimmt uns mit. Er stellt sich als Bärenforscher heraus, berichtet von fünf Bären in Andorra und dass er gerade erst eine Bärenmutter mit Jungen gesichtet hätte, die er fast jeden Tag sähe – und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu, dass man Tourist:innen nur erzähle, sie seien „scheu“. Außerdem sei er Schweizer und wegen der Steuererparnisse hierhergezogen.
Aktuell findet ein Radrennen in La Massana statt und die Straße ins Stadtzentrum ist gesperrt. Daher setzt er uns vor der Sperrung ab. Mit meinen wundgescheuerten Füßen über zwei Kilometer zum Hotel zu laufen, entlockt mir keine Hochgefühle. Wir stehen an einer Bushaltestelle und versuchen in den 10 Minuten, bis der Bus kommt, herauszufinden, wie wir Tickets dafür kaufen können. Per App, die ist aber nicht super benutzerfreundlich. Wir schaffen es gerade so und besteigen den Bus, der uns ganz nah am Hotel absetzt.
Ich sehne mich immer nach einer Dusche nach Tagen auf dem Trail, aber im nasskalten Wetter ganz besonders. Ich freue mich auch darüber, endlich die nassen Socken und Schuhe loszuwerden. Meine Füße sind ordentlich aufgeweicht, voller Falten.
Abends geht es in den Waschsalon, wo wir unsere nach nassem Hund stinkende Kleidung waschen. Der Waschsalon ist von einer Gruppe junger Männer in Beschlag genommen, die die Sitzgelegenheiten komplett für sich beanspruchen und dabei recht laut sind. Wir vertreiben uns die 30 Minuten Wartezeit damit, den Supermarkt nebenan zu durchstöbern. Dann sitzen wir auf dem Boden im Waschsalon und warten, noch mal 20 Minuten auf den Trockner. Morgen werden wir einen Zero in dieser reizenden andorranischen Stadt verbringen. Sieht so aus, als gäbe es hier jede Menge gutes Essen – Crêpes, Bratwurst, Tapas und ein veganes Restaurant mit großartigen Bewertungen sind nur einige der Möglichkeiten.
Hier geht’s zum fünften Abschnitt auf dem HRP:
HRP 5: Über Carlit & Canigou zum Mittelmeer – El Serrat bis Banyuls-sur-Mer

























































































































