Die letzte, wilde Etappe des HRP führt durch alle Facetten der Pyrenäen: alpine Gipfel, lange Gratwanderungen, mediterrane Wälder und schließlich das Meer. Nach dem Abschied von Andorra warten der Pic Carlit und der legendäre Pic du Canigou, die einen würdigen Abschied von den hohen Pyrenäen bieten. Danach wird das Gelände sanfter, die Luft schwerer. Zwischen Korkeichen, Mücken und schwüler Hitze nähern wir uns Tag für Tag dem Mittelmeer.
HRP Tag 28 – Magenschmerzen
El Serrat bis zu einem kleinen Plateau mit Teich: 11,9 km / 1.220 hm / 4 h
Am Abend unseres Zero Days in La Massana fängt mein Magen an zu schmerzen. An sich nicht ungewöhnlich, da mein Magen sich regelmäßig über irgendwas beschwert. Doch dieses Mal bleibt der Schmerz, zieht sich in die Nacht hinein. Um drei Uhr morgens wache ich mit Übelkeit auf und liege drei Stunden wach. Nach einer weiteren Stunde Schlaf fühle ich mich nicht wesentlich besser. Ich nehme Medikamente zur Beruhigung meines Magens und wir gehen zum Frühstücksbuffet im Hotel, wo ich mich darauf konzentriere, möglichst schonend zu essen. Bleiben möchte ich trotzdem nicht – das Wetter ist perfekt, und der Gedanke, einen so klaren Tag im Hotel zu verbringen, widerstrebt mir. Vielleicht lässt sich der Schmerz ja „weglaufen“.
Wir nehmen den Bus nach Ordino und weiter nach El Serrat, wo wir den Trail vorgestern verlassen haben. Das klappt unerwartet reibungslos und gegen Mittag stehen wir wieder auf dem HRP. Die Schmerzen weichen leider nicht. Wir steigen zum Refugi de Sorteny auf, wo wir eine Pause auf Liegestühlen einlegen und Softdrinks zu uns nehmen. Ich nehme eine weitere Tablette und hoffe auf das Beste. Dann machen wir uns an den weiteren Aufstieg zum Collada dels Meners (2.713 m) und dabei geht es mir langsam besser, was mir Hoffnung macht.
Am Bach machen wir eine Pause, um Wasser aufzufüllen, und treffen Paradise und Agnes, ein polnisches Paar. Paradise ist letztes Jahr den PCT gewandert und war dieses Jahr auf dem Hexatrek unterwegs. Dabei hat er sich verletzt und nun erkundet er mit Agnes gemeinsam gemütlich die Pyrenäen.
Am Pass haben wir eine fantastische Aussicht auf die Bergwelt Andorras mit bunten Hängen, grünen Wiesen und kleinen Seen. Ich bin hin und weg. Für einen Moment vergesse ich die Schmerzen und fühle mich wieder leicht.
Beim Abstieg holt mich der Hunger ein. Seit dem Frühstück habe ich nichts gegessen – aus Angst, meinen Magen weiter zu reizen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus, trinke einen Proteinshake und esse ein paar Kekse. Schwerer Fehler. Die Schmerzen kehren mit voller Wucht zurück, und ich schleppe mich den nächsten kurzen Anstieg hinauf.
Wir erreichen die Cabana Cóms de Jan, die von einem Haufen Jugendlicher lautstark in Beschlag genommen ist. Hier zelten wir auf keinen Fall, also weiter. Ich hadere mit mir, weil ich heute gerne mehr schaffen würde, muss aber einsehen, dass es keinen Sinn hat. Beim Aufstieg finden wir einen ruhigen Zeltplatz an einem Teich und streichen für heute die Segel.
Hinlegen tut gut, dazu ein Ingwertee und eine weitere Magenberuhigungstablette. Ich kann nur hoffen, dass es mir morgen besser geht und sich die Situation nicht zu einer wochenlangen Magenodyssee auswächst wie letztes Jahr in den San Juans. Draußen färbt die untergehende Sonne das Gras golden, die Felswände glühen im Abendlicht. Trotz allem ist es schön. Und das ist es, was zählt.
HRP Tag 29 – Abschied von Andorra
Kleines Plateau mit Teich bis L’Hospitalet-prés-l’Andorre: 22 km / 1.420 hm / 8 h
Wolken rollen über die Berge am Morgen. Meinem Magen geht es heute viel besser und ich bin zuversichtlich. Der erste Aufstieg zum Serra de Cabana Sorda ist steil, aber von unserem Zeltplatz aus nicht mehr lang. Die Sicht verschwindet in den Wolken, doch in dem Moment, als wir den Pass erreichen, hebt sich der Nebel. Ich steige sogar noch ein paar Meter höher auf dem Grat hinauf, um zum unter uns liegenden See Estany de Cabana Sorda zu blicken. Ein kalter Wind zieht über die Höhen, treibt die Wolken in schwindelerregender Geschwindigkeit durch das Tal – ein hypnotischer Tanz aus Licht und Bewegung.
Wir steigen zum See ab, den ich gerade noch von oben bewundert habe. Er hat eine intensive grüne Farbe, während der von oben noch im Schatten liegende See blau gewirkt hat. Einen weiteren Aufstieg gilt es noch zu bewältigen, dann kommen wir rechtzeitig zum Mittagessen im Refugi de Juclar an. Das Menu du Jour ist üppig: Pasta Bolognese, danach eine Art Gulasch mit Reis, gefolgt von Kuchen. Ich bin mit meinem Magen noch vorsichtig und bekomme noch keine großen Mengen hinein. Ein Umstand, bei dem mir Ryan nur zu gerne behilflich ist.
Wir passieren die Seen nahe der Hütte und steigen dann zum nächsten Pass auf, was uns schöne Blicke auf die Seen von oben bietet. Am Col de l’Albe verabschieden wir uns dann von Andorra und kehren wieder nach Frankreich zurück. Andorra mag auf der Karte unscheinbar wirken, doch in Erinnerung bleibt es als einer der Höhepunkte des HRP – kompakt, wild, intensiv.
Von hier sind es nur noch 10 Kilometer, die größtenteils bergab führen, aber die ziehen sich. Zunächst gilt es, mal wieder mühsame Blockfelder zu durchqueren, wobei wir vier weitere Seen passieren. Danach geht es wieder schneller voran. Bald können wir die noch 3,5 Kilometer entfernte Straße erblicken und kurz darauf auch die Häuser von l’Hospitalet-près-l’Andorre. Zahlreiche Serpentinen, die immer wieder unter einer großen schwarzen Pipeline hindurchführen, führen uns nach unten. Der Plan, die Stadt am Sonntag zu erreichen, ist doch noch aufgegangen, trotz meiner Unpässlichkeit gestern.
Im kleinen und einzigen Laden der ansonsten eher unscheinbaren Grenzstadt kaufen wir ein paar Snacks und unsere geliebte Orangina, endlich wieder erhältlich, seit wir zurück in Frankreich sind. Außerdem finden wir eine tiefgekühlte Lasagne, die wir in der Mikrowelle sogar erhitzen können. Ich sage euch, warme Tiefkühl-Lasagne schmeckt so viel besser als kalte.
Dann gehen wir zum Campground, der ein Stück außerhalb liegt, und bauen das Zelt wieder gerade rechtzeitig vor dem angekündigten Abendregen auf. Wir duschen, was sich ein wenig komisch anfühlt, nach gerade mal zwei Tagen, in denen ich kaum geschwitzt habe. Meine Kleidung riecht noch immer nach Waschmittel. Ich fühle mich wie ein Dayhiker.
Der größte Teil des HRP liegt nun hinter uns: Nur noch 194 km bis zum Mittelmeer. Ich habe es nicht eilig. Der HRP ist ebenso hart, wie er schön ist.
HRP Tag 30 – The Miserable Mist
L’Hospitalet-prés-l’Andorre bis Estany dels Forats: 18,8 km / 1.560 hm / 6 h
Der Morgen beginnt kalt, grau und regnerisch. Wir sind von dichten Wolken eingehüllt, und allein der Gedanke, den warmen Schlafsack zu verlassen, fühlt sich wie ein Akt der Selbstüberwindung an.
Nach einer Weile raffen wir uns auf und packen das vom nächtlichen Regen nasse Zelt ein. Zu allem Überfluss stelle ich fest, dass einer meiner Schuhe nicht ganz unter dem Zelt stand und nun klatschnass ist. Es hat sich sogar eine Pfütze darin gebildet. Auch mein Rucksack ist an einer Stelle feucht, wo er anscheinend zu nah an der Zeltwand lag und vom Regen getroffen wurde. Ich bin nicht gerade bei bester Stimmung.
Wir machen uns auf den Weg zur Bäckerei, wo wir Sandwiches, Aprikosentarte und Blaubeertaschen verschlingen und dazu heiße Schokolade trinken. Draußen blitzt ein Stück blauen Himmels auf, und wir beschließen, dass dies der Moment ist, an dem alles besser wird, und brechen auf.
Bis auf das erste kurze steile Stück ist der Aufstieg sehr angenehm. Sanfte Serpentinen führen uns durch nebligen Wald hinauf zum Étang des Bésines und weiter zum Refuge des Bésines. Die Sonne lässt sich dabei leider nicht blicken, aber immerhin regnet es nicht. Und solange wir in Bewegung bleiben, ist uns warm genug.
Im Refuge bestellen wir Omelette Fromage und Orangina. Wir setzen uns an den warmen Ofen und ich denke: Ich möchte nie wieder hier weg. Doch dann stellen wir uns doch dem Wetter da draußen. Erst ist es sehr kalt, aber mit der Bewegung kehrt die Wärme in unsere Glieder zurück. Feiner Sprühregen begleitet uns auf dem Weg zum Pass. Die Welt ist ein einziger Nebel, die Sicht gleich null, die Stimmung gedämpft, während uns kalter Wind um die Ohren weht.
Kurz scheint sich die Sonne durchzusetzen: Für einen Moment leuchten die Hänge am Lac de Lanoux im diffusen Licht. Aber die Sonne erreicht uns nicht. Wir steigen weiter in den Wolken auf, bis zum Estany dels Forats, wo uns eine große Herde Bergziegen begegnet.
Ich bin stolz auf uns. Trotz Regen, Wind und Nebel sind wir heute so weit gekommen, wie wir uns vorgenommen hatten. Morgen wollen wir den Pic Carlit (2.921 m) besteigen – hoffentlich unter einem klareren Himmel.
HRP Tag 31 – Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen
Estany dels Forats bis La Perche via Bolquere: 22,4 km / 690 hm / 6,5 h
Der Morgen beginnt eiskalt. Eine dünne Schicht Eis überzieht das Zelt, und es dauert, bis ich mich überwinde, aus dem warmen Schlafsack zu kriechen. Es war die kälteste Nacht bisher.
Der Aufstieg zum Pic Carlit (2.921 m) ist steil und führt über die schattige Nordseite. Ich trage Daunenjacke, Leggings und Handschuhe, und trotzdem zittern mir die Finger. Die Felsen sind rutschig vom Frost, also setze ich jeden Schritt mit Bedacht. Aber der Schotter ist angenehm hart gefroren, was ihn stabiler macht. Wie so oft, wenn der Anstieg zäh wird, beginne ich, meine Schritte zu zählen – eine Art Motivation weiterzumachen und meinen Kopf zu beschäftigen. Die Abstände zwischen den Zahlen sind recht groß. Normalerweise geht das 1, 2, 3, 4, jetzt aber eher 1…….. 2…….. 3…….. 4.
Oben erwartet uns die Sonne und eine der besten Aussichten des HRP. Wir blicken über ein Mosaik aus Seen im Osten und schroffe Gipfel im Westen. Das Mittelmeer können wir heute allerdings nicht erkennen, es ist unter einer Wolkenschicht begraben. Aber ich stelle es mir nach Osten blickend vor. Viele Tageswanderer sind unterwegs; offenbar ist der Carlit ein beliebtes Ziel.
Der Abstieg führt uns zu einem großen Parkplatz, wo gleich drei Restaurants locken. Wir entdecken Boles de Picolat, katalanische Fleischbällchen. Ich bin verliebt.
Danach wandern wir weiter entlang mehrerer Seen. Ich ärgere mich ein wenig, dass wir hier nicht den GR 10 genommen haben: Der HRP führt hier auf einer umständlicheren Route über wurzelige, steinige Pfade, dazu wimmelt es von Tageswanderern, die arglos den Weg blockieren.
Erst, als wir wieder auf den GR 10 stoßen, wird der Weg angenehmer – breite Forstwege, die sich leicht gehen lassen, dann ein kurzer Roadwalk nach Bolquère, wo wir einkaufen. Der kleine Laden überrascht mit einer guten Auswahl: unsere Lieblingschips mit karamellisierten Zwiebeln und sogar die Knorr-Thai-Suppe, mit der wir nach Gavarnie die besten Trailnudeln überhaupt gekocht hatten – seit Wochen hatte ich danach Ausschau gehalten.
Noch 1,6 Kilometer Roadwalk nach La Perche, leider ohne Seitenstreifen und mit unangenehm viel Verkehr. Ich habe ein Zimmer im örtlichen Hotel reserviert, da Wildcampen hier nur oberhalb von 2.000 Metern erlaubt ist. Soweit wollen wir heute nicht mehr gehen. Als wir ankommen, ist die Tür verschlossen, doch ein kurzer Anruf auf einer Mischung aus Französisch und Englisch verschafft uns Einlass.
Nach der frostigen Nacht, dem noch immer feuchten Zelt und angesichts eines üppigen Menüs zum Abendessen, bereue ich nichts. Die Boles de Picolat haben es uns so sehr angetan, dass wir sie gleich noch einmal bestellen.
HRP Tag 32 – Eine lange Gratwanderung
La Perche bis Flussplateau vor Refugi d’Ull de Ter: 29,7 km / 1.270 hm / 7,5 h
Nach den kalten, nassen Tagen zuvor ist heute einer dieser seltenen, vollkommenen Tage: nicht zu heiß, nicht zu kalt, strahlend blauer Himmel – und eine lange Gratwanderung vor uns.
Zuerst müssen wir jedoch noch 3,5 km an der Straße entlang nach Eyne marschieren, was weniger angenehm ist. Wir wechseln von einer Straßenseite auf die andere, je nach Einsicht der Kurven oder um einem Traktor Platz zu machen.
Dann steigen wir entlang eines Flusses durch das idyllische Vallée d’Eyne, größtenteils in sanfter Steigung, sodass wir schnell vorankommen. Murmeltiere sitzen am Wegesrand, violettfarbene Blumen wachsen am Fluss, der sich gelegentlich in Wasserfällen ergießt. Es ist ein Paradies. An der letzten Quelle füllen wir unsere Flaschen, denn auf der langen Gratetappe wird es kein Wasser mehr geben.
Nach 1.100 Höhenmetern in 3,5 Stunden erreichen wir das Col d’Eyne, zeitgleich mit einer Gruppe junger Trailrunnerinnen. Keiner von ihnen ist wirklich gerannt, aber sie tragen modische Laufwesten und sehen aus, als wären sie gerade einem Outdoor-Katalog entstiegen. Ich fühle mich ziemlich gut dabei, mit meinem großen Rucksack Schritt gehalten zu haben.
Ab hier folgen wir dem Grat, direkt entlang der Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Eine witzige Mischung entsteht, wenn uns jemand „Buen provecho!“ zuruft und ich mit „Merci!“ antworte. Inzwischen habe ich aufgehört, mich ständig sprachlich anzupassen; auf dem HRP wechselt die Sprache einfach zu schnell, um mithalten zu können.
Der Weg ist klar und erstaunlich glatt. Trotz der vielen Höhenmeter, die wir dabei sammeln, kommen wir gut voran. Und die Aussichten! Zu beiden Seiten öffnen sich neue Täler voller Seen und endloser Bergketten. Wir erklimmen einen Gipfel und einen Pass nach dem anderen, darunter das Col de Nou Creus, wo neun kleine Kreuze an neun Menschen erinnern, die hier von Blitzen getroffen wurden.
Schließlich endet der Grat, und wir steigen ab – mitten durch eine Herde Bergziegen, die sich nicht viel aus uns macht. Normalerweise sind sie scheuer und rennen vor uns davon. Murmeltiere flitzen umher, die Sonne steht warm am Himmel. Am ersten Fluss halten wir, um Wasser aufzufüllen. Dort treffen wir Shawn, einen kanadischen Hexatrek-Hiker mit langen Haaren und Bart, bei dem uns schon von Weitem klar ist, dass wir es hier mit einem Thru-Hiker zu tun haben. Da er aus Québec kommt, spricht er Französisch, was hier sehr zu seinem Vorteil ist. Wir tauschen Trail-Infos aus: Er empfiehlt uns, rund um das nächste Refugi Wasser aufzufüllen, da danach länger nichts kommt, im Gegenzug warnen wir ihn vor der Trockenheit auf dem Grat. Außerdem erzählen wir ihm von den Pässen, die er plant, als Alternative zum Hexatrek auf dem HRP zu gehen.
Kurz vor dem Refugi d’Ull de Ter finden wir einen perfekten Platz am Fluss. Ein kleines Plateau, weiches Gras, plätscherndes Wasser – alles, was man braucht. Kein Schleppen von Wasser, kein Wind, kein Stress. Die Abendsonne ist so schön warm, dass wir das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit draußen essen und ich es richtig genieße. Nach all den wechselhaften Tagen ist das heute einer jener Abende, an denen sich alles mühelos anfühlt: Körper und Rucksack, Berg und Himmel, alles im Gleichgewicht.
HRP Tag 33 – Viel Lärm um nichts
Flussplateau vor Refugi d’Ull de Ter bis Pla de Cady: 23,4 km / 1.730 hm / 7 h
Ein Sonnenaufgang wie gemalt: Die Wolken über uns leuchten in sattem Orange und Rot, während sich im Tal unter uns eine geschlossene Wolkendecke ausbreitet.
Wir steigen zunächst hinunter ins Skigebiet, vorbei an stillen Liften und großen Parkplätzen, die geduldig auf den Winter warten. Dann folgt ein kurzer, steiler Anstieg, auf dem wir einer Gruppe Jäger mit einem Dackel begegnen, der sich immer wieder zu mir umdreht. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich nur aufmerksam beobachtet oder mich als potenzielle Beute einstuft. Ich traue ihm jedenfalls nicht. Schließlich überholen wir die Gruppe und gehen unbeobachtet weiter.
Wir überqueren heute mehrere Hochflächen und bleiben über 2.000 m, sodass sich heute deutlich weniger Höhenmeter ansammeln. Der Weg geht sich einfach und so haben wir bereits am frühen Nachmittag die 22 km zum Refuge de Mariailles zurückgelegt, wo wir in die Wolken eintauchen.
Ich bin hungrig und frage nach dem Plat du Jour. Die Wirtin antwortet mir auf Französisch und ich verstehe kein Wort. Ich beschließe, das Risiko nicht einzugehen, und bleibe bei sicherem Terrain: Coke und Orangina. Außerdem geht es in der Hütte recht laut zu; eine große Gruppe dominiert den Raum, Stimmen hallen von den Wänden. Mir ist das sofort zu viel und wir flüchten wieder nach draußen.
Der Himmel zieht sich zu, ein Rumpeln kündigt ein Gewitter an, die Luft wird schwer. Laut Wetterbericht soll es gegen 18 Uhr losgehen. Ein braungebrannter Mann mit wehendem Haar, oberkörperfrei – er sieht aus wie ein französischer Tarzan – kommt uns entgegen und warnt mit großen Augen: „You should turn back!“ Wir lächeln nur. Dies ist nicht unser erstes Rodeo, mein Freund. Außerdem wissen wir, dass es weiter oben eine kleine Cabane gibt, in die wir im Notfall einkehren können.
Als wir dort ankommen, sind schon drei Leute drinnen, und das Wetter sieht längst nicht mehr bedrohlich aus. Also gehen wir weiter, bis wir einen Platz auf einem Plateau finden. Vor uns thront der Pic du Canigou (2.784 m), der letzte große Gipfel vor dem Mittelmeer. Das Ziel rückt näher. Angesichts des drohenden Gewitters kommt der für uns heute nicht mehr infrage.
Wir sind in einem kleinen Kessel, der den Wind einiger abhält. Wolken türmen sich dramatisch auf, aber dann… nichts. Kein Donner, kein Regen. Nur die bimmelnden Kühe kommen uns besuchen. Viel Lärm um nichts. Aber lieber so als andersherum.
HRP Tag 34 – Abschied von den hohen Pyrenäen am Pic du Canigou
Pla de Cady bis Arles-sur-Tech: 33 km / 890 hm / 9 h
Da wir am Fuße des Pic du Canigou geschlafen haben, ist es am Morgen nicht mehr weit bis zum Gipfel. Der Trail zieht sich in angenehmen Serpentinen durch die Felsen und wir überholen eine Gruppe aus drei jungen Tageswanderern. Einer von ihnen blockiert den Pfad an einer Abzweigung und stößt mich beim Umdrehen mit seinem Rucksack fast vom Weg. Genervt gehe ich weiter, darauf bedacht, vor ihnen zu bleiben.
Kurz vor dem Gipfel gilt es dann einen Kamin hinaufzukraxeln, was genau die richtige Menge an Spannung hervorbringt, ohne angsteinflößend zu sein. Der Fels ist fest und griffig, doch kleine Steine lösen sich immer. Wir sind froh, dass niemand mehr vor uns ist. Dann stehen wir am Gipfelkreuz. Ein eiskalter Wind pfeift, die Gebetsflaggen vom Kreuz schlagen mir ins Gesicht, Wolken wabern über die Grate. Die Silhouetten von Wanderern erheben sich gegen die Wolken auf dem Grat gegenüber, und wir sehen Dörfer in den Tälern tief unter uns. Das Mittelmeer bleibt verborgen, aber wir wissen: dort im Osten, hinter der Wolkendecke, wartet es.
Die drei Wanderer vom Aufstieg kommen nach und wir machen gegenseitig Gipfelfotos. Die junge Frau trägt dieselbe Decathlon-Fleecejacke wie ich – nur dass ihre aussieht wie neu. Das Pink leuchtet noch pink, nicht ausgewaschen-rosa, und Löcher sind keine zu sehen. Meine dagegen hat zwei komplette Thru-Hikes hinter sich und so sieht sie auch aus. Da Decathlon das Modell längst nicht mehr verkauft, schaue ich ein wenig neidisch auf ihr intaktes Exemplar.
Es wird schnell ungemütlich. Ich ziehe Regenjacke und zwei Paar Handschuhe über und wir machen uns auf den Abstieg, der auf der anderen Seite deutlich einfacher ist. Serpentinen führen uns an zahlreichen Aufsteigenden vorbei. Sie liegt jedoch im Schatten und mir ist inzwischen richtig kalt. Meine Hände wollen nicht auftauen und ich kann es kaum erwarten, wieder in die Sonne zu kommen. Mir ist heute Morgen kälter als an jedem anderen Tag auf dem HRP. Aber die hohen Berge liegen nun hinter uns, ab jetzt werden wir die 1.000-Meter-Marke nur noch selten überschreiten. Der Canigou ist ein würdiger Abschied von den hohen Pyrenäen.
Im Refuge des Cortalets gönne ich mir eine heiße Schokolade, die mich von innen wärmt. Der Rest des Tages ist ruhiger, führt immer wieder durch Wald, später über einen Balkonweg entlang des Canigou-Massivs, doch die Wolken nehmen uns jede Aussicht.
Dafür sorgen Kühe für Unterhaltung. Zwei Kühe mit Kälbern blockieren den Pfad und interessieren sich mehr für das Salz an den Felsen als für vorbeiwollende Wanderer. Rechts die Felswand, links der Abhang – kein Vorbeikommen. Ein deutsches Paar steht auf der anderen Seite ebenso ratlos. Als eine Kuh sich endlich bewegt, versucht der Mann sein Glück, wird von dem ausschlagenden Kopf der Kuh aus dem Gleichgewicht gebracht und mit einem Bein vom Trail geschubst, kommt aber mit ein paar Schrammen von den am Wegesrand wachsenden Dornenbüschen davon.
Ryan schafft es danach vorbei, ich will folgen – und lande rücklings im Staub, als die Kuh wieder mit ihrem Kopf ausschlägt. Sie schlägt nach Fliegen, für uns interessiert sie sich nicht die Bohne. Schließlich rücken die Kühe doch noch genug, und wir kommen an ihnen vorbei. Ich bin erleichtert. Wir haben nicht mit solcherlei Hindernissen auf diesem vermeintlich einfachen Weg gerechnet. Verrückt: Wir haben Stürme, Gewitter und ausgesetzte Kraxeleien überstanden – um fast von einer Kuh aus dem Weg geräumt zu werden.
Noch zweimal versperren uns Kühe den Weg, doch dieses Mal können wir am Hang entlang vorbeikraxeln. Danach geht es lange durch den Wald, dann der Abstieg zum Refuge de Batère. Leider kommen wir zu früh fürs Mittagessen, eine Orangina muss reichen. Wir treffen dort Nikita, die den GR 10 wandert. Sie erzählt, dass alle ihre bisherigen Trailfreunde aufgehört haben oder zurückgefallen sind. Die letzten Tage wandert sie allein, was ihr sichtlich missfällt. Es ist die erste Wanderung dieser Art, die sie macht, und es gefällt ihr gut. Wir empfehlen ihr den PCT als nächstes Abenteuer. Ich habe Hummeln im Hintern, denn erstens wird mir kalt, wenn ich hier herumsitze, zweitens haben wir noch einiges vor uns und es ist bereits 16 Uhr.
Ab hier sind es noch 11 Kilometer bergab bis nach Arles-sur-Tech auf nur 282 Metern Höhe. Ewig ist es her, dass wir unter 1.000 m waren. Wir befinden uns jetzt im Vorgebirg der Pyrenäen und nähern uns damit dem Ende. Den ganzen Rest des Weges nach Banyuls folgt der HRP dem GR 10.
Der Weg wechselt zwischen Forststraßen und schmalen Waldpfaden, später wird die Landschaft mediterran: trockene Kiefern und staubige Kieswege. Wir durchqueren ein merkwürdiges „ecological camp“ voller Trailer. Zwei der Camper begrüßen wir mit einem “Bonjour”, bekommen aber keine Antwort. Wir sehen aber zwei süße Katzen auf dem Weg. Es wird immer wärmer und schwüler je tiefer wir kommen. Kleine Fliegen umschwirren uns, die wir versuchen, uns mit aggressivem Wedeln unserer Trekkingstöcke vom Leib u halten. Ich wünsche mich bereits in die kühleren Berge zurück.
Endlich erreichen wir Arles-sur-Tech – nach 33 Kilometern, unserer bisher längsten Tagesdistanz auf dem HRP. Auf anderen Trails wäre das Routine gewesen, hier fühlt es sich monumental an.
Am Campground ist zunächst niemand an der Rezeption. Ein Zettel verweist auf eine Telefonnummer, aber niemand hebt ab. Wir sind etwas ratlos, beschließen dann erst mal, zum Restaurant nebenan zu gehen, um etwas zu essen und eventuell weitere Informationen zu bekommen. Da passiert aber auch nichts. Anscheinend findet heute Abend ein Konzert statt und immer mehr Leute tauchen auf, eine Bedienung aber nicht. Schließlich treffen wir auf dem Platz Sanne aus den Niederlanden, die gemeinsam mit Cordelia unterwegs gewesen war. Cordelia ist schon weiter, Sanne hat sich am Fuß verletzt und pausiert hier. Sie bestätigt uns, dass wir unser Zelt einfach aufstellen und morgen bezahlen können. Erleichterung. Es ist mittlerweile fast 20 Uhr und wir wollen nur noch duschen, essen, ausruhen, von Mücken zerstochen werden.
Wir unterhalten uns noch lange mit Sanne über unsere Erfahrungen auf dem HRP, während wir Abendessen kochen und von Mücken zerstochen werden. Sie erzählt, dass sie und Cordelia am Morgen nach der Frostnacht einer Wanderin begegnet sind, die sich verlaufen und die Nacht in Shorts und einem dünnen Anorak im Freien verbracht habe. Ihr schien es aber gutzugehen, was unter diesen Umständen unmöglich scheint. Aber was soll man machen, wenn die Dame darauf besteht, dass alles okay sei?
HRP Tag 35 – Von Meltdown zu Meerblick
Arles-sur-Tech bis Refugi de les Salines: 17,8 km / 1.730 hm / 6 h
Ein seltener Anblick am Morgen: kein einziger Tropfen Kondensation auf dem Zelt. Der Besitzer des Campgrounds kommt mit seinem Golfcart vorbeigerollt, wir bezahlen für die Nacht – versehentlich gleich für zwei. Ein Übersetzungsfehler meinerseits, aber bei 23 Euro insgesamt sehe ich darüber hinweg.
Im Ort erledigen wir unseren Resupply im Spar und schlendern durch die hübschen Gassen von Arles-sur-Tech. Ich freue mich besonders auf das Frühstück: Fromage blanc, mein Lieblingsjoghurt in Frankreich, dazu Kirschkompott. Einziger Haken: Mir sind seit Tagen die Laktasetabletten ausgegangen. Heute soll sich das endlich ändern, denn hier gibt es eine Apotheke. Der Plan: neue Tabletten in der Apotheke besorgen, dann gemütlich frühstücken.
Der Apothekenbesuch stellt sich als herausfordernder heraus als gedacht: grelles Türglockenläuten bei jedem Kunden, was mich jedes Mal zusammenzucken lässt. Ich durchstöbere die Gänge um nicht mit jemanden kommunizieren zu müssen, finde aber nichts. Schließlich frage ich in meinem holprigen Französisch nach Laktasetabletten, aber mir schlägt völliges Unverständnis entgegen. Ich versuche es noch einmal, umschreibe es mit Tabletten für Laktoseintoleranz. Nach mehreren Anläufen kommt heraus: Sie haben keine da, müssten bestellen. Das hilft mir nicht weiter. Ich bedanke mich und verlasse den Laden.
Und dann kippt alles. Zu laut, zu heiß, zu viele Autos, zu viele Reize. Der Plan ist geplatzt, mein Kopf summt, mein Körper überfordert. Ich weiß nicht mehr, was als Nächstes kommt: Orangina umfüllen, Müll entsorgen, Frühstück essen? Zu viel. Ich stecke mir meine Loops in die Ohren, atme ein paar Mal tief durch und entscheide: Ich muss hier weg, raus in die Stille der Natur. Dort kann ich wieder klar denken.
Der Aufstieg im Wald ist steil und schwül. Wir schwitzen in Strömen, machen alle paar hundert Höhenmeter Pause. Ich wische mir mit dem Handtuch den tropfenden Schweiß vom Gesicht und trinke Orangina wie einen Heiltrank. Aussicht? Fehlanzeige. Es ist, als hätte uns der HRP für diesen Tag ein Kapitel Appalachian Trail geschenkt. Am Pass angekommen, esse ich endlich meinen Fromage blanc mit Kirschen, Laktose hin oder her. Ein Risiko, das ich bereit bin einzugehen.
Der Abstieg führt nach La Fargassa, einem Eco-Hotel mit Campground für Wanderer. Auf der Wiese begegnen wir einem jungen Kätzchen, das sich schnurrend streicheln lässt. Ein kleiner Moment Frieden.
Dann beginnt der letzte große Aufstieg des HRP. Über 1.000 Höhenmeter im dichten Wald – feucht, stickig, kein Lüftchen. Wir machen Mittagspause am Brunnen von Montalba d’Amélie, essen Sandwiches und spülen sie mit Orangina hinunter. Gesegnet sei die Orangina, sie bringt mich durch den schweißtreibenden Tag voller steiler Höhenmeter. Wir machen uns wieder auf den Weg; mal mehr, mal weniger steil, aber stets schwitzend.
Der Trail zieht uns noch einmal richtig durch die Mangel. Statt des bequemen GR 10 wählt der HRP eine eigene Linie über den Roc de Frausa (1.450 m) – ein mit kratzigen Büschen überwachsener Pfad, der kaum erkennbar ist. Oben bläst uns ein kühler Wind entgegen, der uns trocknet, und zum ersten Mal sehen wir wirklich das Mittelmeer. Von einem Ozean zum anderen – ein Gedanke, der mich ehrfürchtig macht. Nur noch wenige Tage, und auch dieser Thru-Hike wird nur mehr eine Erinnerung sein. Wir scherzen darüber, einfach umzudrehen und wieder zurück zum Atlantik zu laufen.
Der Abstieg durchs Gestrüpp ist unübersichtlich, dann stoßen wir wieder auf den GR 10. Zwei Kilometer weiter steht ein geschlossenes Refugi mit einem Brunnen daneben. Das Wasser ist herrlich kalt, und direkt dahinter finden wir eine flache Wiese für unser Zelt.
Wir begegnen zwei jungen Studenten aus Toulouse, die Ingenieurwesen studieren. Sie erzählen, dass sie oft für Wochenenden zum Wandern in die Pyrenäen kommen. Sie sind auf einem Dreitagestrip unterwegs und wollen noch fünf Kilometer weiter nach Las Illas, wo es einen Campingplatz und Duschen gäbe. Duschen? Sweet summer children. Vollkommen nutzlos, denn der nächste Tag produziert wieder Unmengen Schweiß. Hier oben auf über 1.000 m wird es auch kühler sein als unten in Las Illas. Mücken gibt es trotzdem.
Mich reizt eher das Essen dort, aber wir haben lieber unsere Ruhe. Wir kochen unser gewohntes Abendessen: Nudeln mit Salami und Knorr-Thai-Suppe. Jeden Tag schmeckt sie etwas anders, je nach Kombination der Zutaten. Nur noch zwei Nächte bleiben uns auf dem HRP. Ich bin froh, sie hier draußen verbringen zu können, zwischen Zikaden und dem Rauschen der Quelle. Die Zivilisation wird uns früh genug wiederhaben.
HRP Tag 36 – Von Fanta, Fliegen und Freundschaften
Refugi de les Salines bis Col de l’Ouillat via Le Perthus: 28,6 km / 1.030 hm / 6,5 h
Der Tag beginnt schwül und wolkenverhangen, aber die wenigen Anstiege am Morgen sind sanft, die Wege breit. Wir folgen größtenteils unspektakulären Forststraßen.
Nach fünf Kilometern Abstieg erreichen wir Las Illas, wo uns mehrere Katzen begrüßen. Auf dem Weg hinauf folgen wir für eine Weile der asphaltierten Straße, an Häusern vorbei, bis sich uns ein bellender, knurrender Hund entgegenstellt, der mir Angst einjagt. Ich schwöre, ich kann die Mordlust in seinen Augen sehen. Wusstet ihr, dass Hunde für 30.000 Todesfälle pro Jahr verantwortlich sind? Zugegeben, die meisten davon sind auf Tollwut zurückzuführen. Ich bin trotzdem froh, nicht allein zu sein. Erst als wir an seinem Haus vorbeikommen, lässt er von uns ab.
Wir marschieren wortlos die 18 Kilometer nach Le Perthus – wie in Trance, auf mein Hörbuch fokussiert, einen Fuß vor den anderen, größtenteils über Forststraßen. Immerhin geht das schnell. Korkeichen säumen den Weg, die Luft ist klebrig und dumpf. Unterwegs überholen wir das französische Ingenieurspaar von gestern wieder. Ich bin nicht sehr motiviert, eine Unterhaltung zu führen, aber auf Ryan ist stets Verlass. Sie erzählen, dass sie neben Wandern auch gerne Windsurfen. Er schon seit der Kindheit, weil sein Vater Windsurfer ist.
Der Wanderführer hatte vor Le Perthus gewarnt – und das zu Recht. Eine Grenzstadt, durch die sich viele Menschen und starker Verkehr schieben. Dazu die üblichen Supermärkte, die auf Alkohol und Zigaretten spezialisiert sind. Mehr Durchgangsstation als Ziel. Es ist heiß, schmutzig und riecht nach Abgasen. Kein Ort, an dem man als Wanderer sein will. Ryan opfert sich und geht in den Supermarkt, um Baguette zu kaufen, während ich draußen unsere Rucksäcke bewache. Orangina gibt es keine, also muss Fanta für den nächsten Anstieg herhalten. Danach essen wir Fast Food im nächstbesten Restaurant und verschwinden wieder.
Vor uns liegen 700 schwüle Höhenmeter. Die Foststraße hat nur kurze, steile Stücke, aber die Luft steht und der Schweiß tropft. Wir haben vergessen, in Le Perthus Wasser aufzufüllen, und hier ist alles trocken. Als wir endlich zu einer Quelle kommen, können wir das Wasser hören, es läuft aber durch einen Schlauch direkt in einen Tank, der keinen Wasserhahn hat. Ryan wird kreativ, klettert auf den Tank, öffnet den Deckel und schöpft so ein wenig kostbares Nass für unsere Flaschen heraus.
Fliegen belästigen uns, setzen sich auf Gesicht und Arme. An einer überwachsenen Stelle mit Brombeersträuchern bleibt mein ohnehin schon löchriges Shirt hängen und eine Heuschrecke springt in meinen Ausschnitt. Ich schreie auf, werfe den Rucksack ab und werfe das Biest raus. Mir reißt der Geduldsfaden. Nicht die hohen Berge und Pässe, nicht die luftigen Klettereien, nicht die Kälte – das hier bricht mich.
Der Trail endet, wie er begonnen hat: zäh, schwül, unbarmherzig. Wenigstens fällt der Abschied so leichter.
Schließlich erreichen wir verschwitzt, klebrig und stinkend das Chalet de l’Albère. Es gibt Orangina und Crêpes. Von der angeblich großartigen Aussicht ist nichts zu sehen, wir stecken in dichten Wolken. Eine orangefarbene Katze balanciert auf dem Geländer, ein freundlicher Golden Retriever sucht nach Aufmerksamkeit – keine Spur von Mordlust, er scheint in Ordnung.
Und dann treffen wir endlich Cordelia wieder. Seit Gavarnie haben wir sie nicht mehr gesehen, sind aber in Kontakt geblieben und freuen uns über das Wiedersehen. Außerdem lernen wir die Franzosen Ben und Hugo kennen, die den GR 10 gehen. Es wird ein schöner Abend voller Lachen und Erinnerungen. Nur eine fehlt: Sanne. Sie musste wegen ihrer Knöchelverletzung den Bus nach Banyuls nehmen – nur drei Tage vor dem Ziel. Bitter, aber wir sind uns einig: Hier verpasst sie nichts. Freude macht das hier keine mehr. Wir gehen nur noch, um unseren kontinuierlichen Fußweg vom Atlantik zum Mittelmeer zu Ende zu bringen. Und morgen ist es vollbracht. Es wird nicht lange dauern, bis wir all das vermissen werden. Ein schlechter Tag draußen ist besser als ein guter Tag im Büro, wie es so schön heißt.
Wir zelten hinter dem Chalet. Wir wurden vor einem frechen Fuchs gewarnt, der hier nachts Essen aus Zelten stehlen soll. Die Besitzer erlauben uns, unsere Vorräte drinnen zu lagern, und wir sind dankbar für diese freundliche Geste. Es wäre auch zu ärgerlich, wenn ein Fuchs uns in der letzten Nacht ein Loch ins Zelt fressen würde. Nach der Geschichte von Irro (was übrigens auch Sanne passiert ist, aber bei ihr hat der Fuchs tatsächlich ihr ganzes Essen gestohlen und ihre Luftmatratze punktiert) wissen wir, dass dies ein echtes Problem sein kann.
Zum Abendessen gibt es ein kleines Festmahl: Brot mit Tomatencreme und Schinken, Salat, Nudeln mit Pilzen, gebackenen Brie und zum Dessert Stracciatella-Joghurt. Ich habe immer noch keine Laktasetabletten, aber dann muss Ryan eben mit dem nächtlichen Geräuschkonzert leben. Gerechte Rache für sein Schnarchen. Das Chalet ist eines der nettesten Refuges des gesamten Trails – fantastisches Essen, herzlich und gemütlich.
Dichter Nebel kriecht herauf. Wenn die Schiebetür zur Terrasse auf ist, kommt er sogar hinein. Als wir später in die Dunkelheit hinaustreten, ist der Nebel so dicht, dass wir Schwierigkeiten haben, unser Zelt zu finden. Es fühlt sich an wie in Der Nebel von Stephen King, aber die einzigen Monster, denen wir begegnen, sind Mücken.
HRP Tag 37 – Ankunft am Mittelmeer
Col de l’Ouillat bis Banyuls-sur-Mer: 23,4 km / 860 hm / 6 h
Der letzte Tag auf dem HRP beginnt neblig und regnerisch. Daher lassen wir uns Zeit. Cordelia und Ben sind schon fort, als wir aus dem regennassen Zelt kriechen. Die Wanderung hinab an das Mittelmeer beinhaltet eine lange Gratwanderung mit Blicken zur Küste. Die Wolken lichten sich bald und geben die Sicht frei auf die hügelige Landschaft, die langsam flacher wird. Es ist trotzdem etwas diesig, aber immerhin ist es heute nicht heiß, dank des Windes, der uns kühl und trocken hält.
Am Pic Neulos (1.256 m) genießen wir die weite Aussicht, bevor der Trail sich in einem steten Auf und Ab über den Grat zieht. In der Ferne blitzt das Mittelmeer durch den Dunst, als würde es uns heranwinken. Beim Pic de Sailfort machen wir Mittagspause und entdecken Schimmel an unserem Käse. Wir schneiden die schlechten Stellen großzügig weg und essen trotzdem. Ein bisschen Trotz gehört wohl zu jedem Thru-Hike.
Während wir zwischen Felsen sitzen und unser letztes Sandwich mit Salami und fragwürdigem Käse verputzen, taucht ein Trailrunner auf, läuft zum Gipfelkreuz unter uns, zieht plötzlich seine Shorts herunter und macht Selfies. Ich unterbreche mitten im Satz in der Konversation mit Ryan. Eine sehr überraschende Ablenkung, die sich kaum ignorieren lässt. Entweder hat er uns nicht bemerkt oder es ist ihm völlig egal. So oder so: Kudos für das Selbstbewusstsein. Schließlich zieht er die Hose wieder hoch und rennt weiter, als wäre nichts gewesen. Willkommen zurück in der Zivilisation.
Hinter uns türmen sich dunkle Wolken auf. Wir wissen, was das bedeutet. Der Regen holt uns ein, lange bevor wir die Küste erreichen. Wir flüchten unter Bäume, sitzen auf einer Bank neben einer Wasserstelle und hoffen, dass es aufhört. Stattdessen regnet es sich so richtig ein. Also ziehen wir murrend unsere Regenjacken über, wählen aufheiternde Musik und gehen die letzte Stunde im Regen.
Die Ankunft am Mittelmeer habe ich mir definitiv anders vorgestellt. Wir erreichen Banyuls-sur-Mer gegen 16:30 Uhr, stehen wie begossene Pudel an einem mit Palmen bestandenen Kiesstrand, machen ein schnelles Selfie und drehen dann um, und gehen zum Hotel. Es ist vollbracht.
Wir fühlen uns so klebrig von den letzten Tagen des Schwitzens, dazu noch der Regen – wir stinken zum Himmel. Eine Dusche drängt, Wäsche waschen auch.
Im Hotel begegnen wir den anderen: Cordelia, Ben, Hugo und auch Sanne sind hier. Wir tauschen kurz Glückwünsche aus und duschen uns dann die Klebrigkeit vom Körper. Es ist erstaunlich, wie eklig man sich nach nur drei Tagen fühlen kann, während sechs Tage weniger problematisch sein können, je nach Feuchtigkeitslevel. Wir waschen die wichtigsten Kleidungsstücke im Waschbecken und stecken den Rest in Quarantäne. Es hat eben auch Nachteile, wenn man nur ein Set Kleidung dabei hat.
Am Abend sitzen wir gemeinsam in einem kleinen Tapas-Restaurant am Strand. Wir stoßen an: auf 771 Kilometer, 37 Tage, 47.730 Höhenmeter, Stürme, Sonne, Nebel, Erschöpfung, Freundschaften. Und auf den Moment, in dem wir am Mittelmeer angekommen sind.
Die Nacht ist kurz und unruhig. Eine Mücke raubt uns den letzten Nerv. Wir können sie allerdings nicht finden, also zersticht sie uns überall. Es ist zu warm, sich vollständig zuzudecken, also wechsle ich zwischen Schwitzen, Kratzen und Fluchen. So wird das nichts. Am Ende funktioniert die Strategie aus geöffnetem Fenster und Ventilator auf voller Stufe, um sie von uns fernzuhalten.
Am nächsten Tag schlendern wir noch durch die Gassen Banyuls, kaufen das letzte französische Baguette und die gute gesalzene französische Butter und fahren dann nach Barcelona, was sich unerwartet abenteuerlich gestaltet. Da am Morgen bereits Züge ausgefallen sind, was Sanne zum Verhängnis wurde, da sie dadurch ihren Anschlusszug verpasst hat, haben wir uns für den Bus nach Perpignan entschieden. Der klappert allerdings 21 Haltestellen ab und die vielen zu- und aussteigenden Strandtouristen verursachen eine deutliche Verspätung. Wir rennen zu unserem Flixbus nach Barcelona, der die Tür vor unserer Nase zuschlägt. Mit ein wenig Flehen öffnet der Fahrer doch noch unwirsch die Tür und lässt uns mit dem Verweis auf die Pünktlichkeit hinein.
45 Minuten bevor wir Barcelona erreichen, hat der Bus jedoch eine Panne und wir enden an einer Autobahnraststätte mitten im Nirgendwo. Eine Weile lang passiert nichts und Informationen dazu, wie und wann es weitergeht, gibt es nicht. Einige andere Fahrgäste haben sich bereits Mitfahrgelegenheiten organisiert. Ich schaue auf die Karte und sehe, dass sich in 30 Minuten Entfernung ein Bahnhof befindet. Wir sind für’s Gehen ausgerüstet, also schnappen wir uns unsere Rucksäcke und marschieren los. Dabei entdecken wir gelbe Pfeile eines Caminos – wir befinden uns auf der Via Augusta. Ein irgendwie passendes Ende für diese Reise.
Rückblick – Zwischen Ozeanen
Vom Atlantik zum Mittelmeer – zwei Meere, ein Gebirge, dazwischen eine Welt aus Fels, Wind, Sonne, Regen, Stille und Ausdauer.
Die Haute Randonnée Pyrénéenne ist kein Trail, den man „einfach mal“ läuft. Sie verlangt Geduld, Vertrauen und ein feines Gespür für das, was sich jenseits der Komfortzone abspielt. Sie belohnt, aber nie ohne Preis.
Ich erinnere mich an Tage, an denen die Sonne gnadenlos brannte und wir uns nach Schatten sehnten. An andere, an denen die Kälte in jede Faser kroch, die Hände taub, das Zelt vereist. An Stunden, in denen ich dachte, ich könne keinen weiteren Schritt tun, und an jene, in denen das Licht, die Stille, das Rauschen eines Flusses mich wieder daran erinnerten, warum ich hier bin.
Es ist diese merkwürdige Mischung aus Schmerz und Frieden, die Thru-Hikes so besonders macht. Körperlich ausgelaugt, aber innerlich ruhig. Reduziert auf das Wesentliche: Essen, Schlafen, Wandern, Atmen. Kaum Mobilfunkempfang, keine Verpflichtungen, nur das Hier und Jetzt.
Der HRP war für mich eine Reise durch die Extreme – von Gewittern und Geröllfeldern über klare Bergseen und sonnige Grate bis zu schwülwarmen Wäldern voller Mücken. Ein stetiger Wechsel von Überforderung und Erfüllung. Manchmal wollte ich nichts sehnlicher, als irgendwo anzukommen. Und doch: Kaum bin ich angekommen, will ich wieder los.
Vielleicht liegt genau darin die Magie des Wanderns. Dass man nie wirklich „ankommt“, sondern immer ein Stück weiterwächst, mit jedem Schritt, jedem Schmerz, jedem Staunen.
Herausforderungen & Höhepunkte des HRP
Herausforderungen: Weglosigkeit, steile Auf- und Abstiege, ausgesetzte Kraxeleien im I. und II. Grad (UIAA), extreme Wetterwechsel und endlose Geröllfelder. Alpine Erfahrung, gute Navigationskenntnisse und solide Kondition sind unerlässlich.
Höhepunkte: Einsame Routen, auf denen zwischen Atlantik und Mittelmeer ein ganzer Gebirgszug durchquert wird. Spektakuläre Landschaften voller Bergseen, Grate und Gipfel, Nebelmeere, Murmeltiere, Bergziegen und Bartgeier.
Lektion: Stärke liegt nicht im Durchbeißen, sondern im Annehmen. Der Trail belohnt nicht Tempo, sondern Ausdauer, Neugier und Demut vor der Natur.
Ihr wollt mehr über die Logistik auf dem HRP erfahren? Schaut mal hier:
HRP: Die anspruchsvollste Pyrenäen-Durchquerung im Überblick