HRP 2: Hitze, Höhen, Hüttenzauber – Iraty bis Gavarnie

Ab Iraty geht der HRP zunehmend in die spektakuläre Landschaft der Zentralpyrenäen über. Die Hügel des Westens liegen hinter uns; vor uns wachsen Grate, blockige Karstfelder und erste richtige Gipfelziele. Mit dem Pic d’Orhy überschreiten wir das erste Mal die 2.000-Meter-Marke. Die Route fordert mehr Orientierung, oft gibt es nur Andeutungen von Pfaden, und der Kartencheck wird zur Routine. Hinzu kommen technische Passagen wie am Port du Lavédan, ausgesetzte Querungen und Momente, in denen der Kopf mitklettern muss. Gleichzeitig warten die großen Bilder: die Nordwand des Vignemale, Wasserfälle und schließlich die Felsarena des Cirque de Gavarnie.

HRP Tag 6 – Zurück im Spiel: Aufstieg zum Pic d’Orhy

Iraty bis Cabane Ardane: 19,7 km / 1.270 hm / 6 h

Nach einem ungeplanten Abstecher nach Saint-Jean-Pied-de-Port bringt uns der Bus zurück nach Iraty. Auf über 1.000 Metern Höhe ist die Luft spürbar kühler. Wir starten allerdings später als geplant, da wir aufgrund von Fehlplanung den ersten Bus verpassen.

Gleich am Straßenrand wartet eine kleine Überraschung: Ryans verloren geglaubte Socke liegt artig dort, als hätte sie nur auf unsere Rückkehr gewartet. Ein Muster, das sich deutlich abzeichnet: Was Ryan verliert, taucht immer wieder auf, während meine verschwundenen Dinge endgültig verschwunden bleiben. Ich freue mich zwar für ihn, bin aber auch ein wenig neidisch.

Der Weg führt zunächst steil durch ein Waldstück bergauf, bevor sich das Gelände öffnet und grüne Grate vor uns liegen. Der 2.017 Meter hohe Pic d’Orhy erhebt sich vor uns und wir arbeiten uns langsam zu ihm vor.

Ein Paar mit Hund weist uns den Weg zu einer tiefer verlaufenden Route. Trotzdem verlaufen wir uns kurz, drehen wieder um und finden schließlich den unscheinbaren, kaum erkennbaren Pfad, der uns hinauf zum Col de Tharta bringt. Dort beginnt der eigentliche Aufstieg.

Und er ist steil. Schon nach wenigen Höhenmetern spüre ich, wie mir die Energie ausgeht. „Langsam und stetig“, sage ich mir, während ich mich mühsam weiter nach oben schleppe. Irgendwann habe ich das Gefühl, gar nicht mehr vorwärtszukommen. Ich habe mal einen Trailrunner sagen hören: „The slowest you can do is stop“ und daran denke ich in solchen Momenten immer wieder. Jede Bewegung ist besser als keine Bewegung.

Eine Herde Schafe läuft vor uns den Hang hinauf. Über einen schmalen Grat geht es weiter, dann in kurzer Kraxelei steil durch loses Geröll hinunter und wieder hinauf. Bei Nebel möchte ich hier nicht unterwegs sein. Ohne Sicht wäre diese Passage eher unangenehm und die Umgehung über den GR 12 sicher die bessere Wahl. Wir begegnen einem HRP-Wanderer aus der Gegenrichtung, der 30 Tage bis hierher gebraucht hat, was ich als ziemlich flott empfinde. Inzwischen ist der bewölkte Himmel aufgeklart, die Sonne brennt, und jede kleine Brise wird zur willkommenen Erleichterung.

Ich muss immer wieder kurze Pausen zum Verschnaufen machen, aber am Ende erreichen wir den Gipfel. Unser erster Zweitausender auf dem HRP. Die Aussicht ist großartig, ein Moment, den ich mir hart erarbeitet habe. Über uns ziehen große Raubvögel ihre Kreise.

Der Abstieg auf der anderen Seite ist steil, aber meine Knie konnten sich von den Strapazen der ersten Tage gut erholen. Seit heute Morgen gab es keine Wasserquelle auf dem Trail, und so erreichen wir mit den letzten Tropfen Wasser schließlich einen Bach. Dort treffen wir Simon aus Belgien, mit dem wir uns kurz unterhalten. Aber ich bin müde und habe nicht viel soziale Energie übrig. Es war ein anstrengender, aber erfüllender Tag. Die Besteigung des Orhy war der erste Höhepunkt auf dem HRP für mich.

Unser Lager schlagen wir in der Nähe der Cabane Ardane auf, umgeben von blökenden Schafen. In solchen Cabanes leben und arbeiten die Schäfer, die den Sommer über mit ihren Herden in den Pyrenäen verbringen. Ihr Alltag beginnt noch vor Sonnenaufgang: In der Kühle des Morgens melken sie die Schafe, zählen sie und überprüfen sie auf Verletzungen, eines nach dem anderen, bevor sie sie durch das enge Gatter auf die Weiden lassen. Tagsüber wachen sie über die Herde, kochen ihre Mahlzeiten auf dem Holzofen und stellen aus der frischen Milch Käse her. Den fromage de brebis, der in den Cabanes reift, kann man oft direkt vor Ort kaufen. Ein Stück echtes Bergleben, würzig und kräftig im Geschmack.

Begleitet werden die Schäfer von großen weißen Herdenschutzhunden, den Patous, die wachsam zwischen den Tieren liegen und sie vor Wölfen und Füchsen schützen. Hütehunde wie Border Collies oder Pyrenäen-Schäferhunde helfen beim Treiben der Herde, reagieren auf Pfiffe und Zurufe und sind das unermüdliche Bindeglied zwischen Mensch und Tier. Wenn am Abend das Geläut der Glocken wieder näherkommt und die Schafe in den Pferch zurückkehren, beginnt alles von vorn. Der traditionelle Kreislauf, der in den Bergen bis heute lebendig geblieben ist.

HRP Tag 7 – Hitze, Murmeltiere und erste Hochgefühle

Cabane Ardane bis Source de Marmitou: 22 km / 1.430 hm / 7,5 h

Am nächsten Morgen steigen wir steil zum ersten Pass hinauf, dann sanfter zum Port de Belhay Pass. Die Wegfindung bleibt eine Herausforderung, denn immer wieder zweigen undeutliche Pfade ab, die sich später als der HRP herausstellen. So landen wir einmal auf der falschen Bergseite, müssen zurück und verlieren dabei ein paar wertvolle Höhenmeter. Wir müssen echt alle paar Minuten auf die Karte schauen, um sicherzustellen, dass wir nicht dem falschen Trail folgen.

Inzwischen hat uns die Sonne erreicht und wir schwitzen wieder wie verrückt. Wir stehen am Anfang einer Hitzewelle von über 30 °C. Am Refugio de Belagua wollen wir Mittag essen, doch wir sind zu früh. Punkt zwölf stürmen wir die Hütte und lassen uns Sandwiches mit Chorizo und eine prickelnde Pepsi schmecken. Danach heißt es Wasser auffüllen, denn die nächste Quelle liegt zehn Kilometer und 700 Höhenmeter entfernt. Obwohl das nicht nach viel klingt, ist das in dieser Hitze kein Spaß.

Als wir wieder loslaufen, ist es wie zu erwarten brütend heiß, aber bald tauchen wir dankenswerterweise in einen Wald ein. Es bleibt schweißtreibend, aber erträglicher als in der prallen Sonne. Schließlich öffnet sich die Landschaft und wir geraten in ein Felslabyrinth. Zwischen den karstigen Kalksteinblöcken begegnen wir unseren ersten Murmeltieren und Bergziegen. Immer wieder legen wir kurze Pausen im nun spärlich gewordenen Schatten ein.

Während wir uns dem höchsten Punkt nähern, durchschreiten wir eine traumhafte Landschaft aus grauem Granit und schroffen Gipfeln. Schließlich öffnet sich ein weites Tal vor uns. Für einen Moment fühle ich mich zurück in der High Sierra. Die bisher schönste Aussicht auf dem HRP. Es scheint jetzt von Tag zu Tag besser zu werden.

Ein steiler Abstieg bringt uns zur Source de Marmitou, wo uns Wasser und traumhafte Zeltplätze erwarten. Zwei Familien haben sich bereits hier niedergelassen, aber die Schönheit des Ortes überstrahlt alles. Wir entscheiden, den restlichen Abstieg nach Lescun auf morgen zu verschieben, und bleiben.

HRP Tag 8 – Resupply in Lescun und ein Sommergewitter

Source de Marmitou bis Ruinen von Cabane du Penot de Haut via Lescun: 17,7 km / 750 hm / 4,5 h

Am frühen Morgen steigen wir nach Lescun ab, während die Sonne als roter Feuerball hinter den Bergen aufgeht. Schafe blöken uns entgegen, und wir passieren einen Wasserfall, bevor uns die Straße direkt ins Dorf führt.

Im örtlichen Lebensmittelladen kaufen wir ein paar Vorräte, danach kehren wir im angrenzenden Café zum Frühstück ein. Beim weiteren Weg durch die Gassen begegnen wir einer ganzen Gruppe Katzen, wovon eine rote sich sogar von mir streicheln lässt. Die Straßen sind so schmal, dass nur ein Auto hindurchpasst, weshalb wir wachsam bleiben und immer wieder Platz machen, um den Einheimischen Raum zu geben.

Nach einem kurzen, aber steilen Aufstieg erreichen wir den Campingplatz von Lescun, wo unser von Hendaye vorausgeschicktes Essenspaket auf uns wartet. Wir nehmen es in Empfang, duschen, waschen endlich einmal unsere Wäsche in einer Maschine, laden unsere Geräte auf und kochen einen großen Topf Nudeln mit Tomatensoße und Salami. Während wir im Schatten vor dem Gebäude sitzen, lernen wir zwei weitere Wanderer kennen: Cordelia aus Großbritannien, eigentlich leidenschaftliche Bikepackerin, dieses Mal aber zu Fuß unterwegs. Schon auf den ersten Blick erkenne ich sie als Thruhikerin: Regenhose bei 30 Grad, der klassische Waschtag-Look. Sie ist wie ich begeisterte Leserin und wir tauschen Goodreads-Accounts und Buchtipps aus. Dazu gesellt sich Charlie aus Frankreich, ein sozialer Schmetterling, der ständig verkündet, gleich aufbrechen zu wollen, und dann doch bleibt. Beide befanden sich bisher auf dem GR 10 und wollen nun auf den HRP wechseln. Keine so schlechte Idee, bis auf die letzten zwei Tage haben sie wirklich nichts verpasst.

Wir haben uns dazu entschieden, nicht die Nacht hierzubleiben, sondern wandern am späten Nachmittag weiter. Die Hitze drückt noch immer, der Schweiß rinnt, doch der Anstieg führt bald in schattigen Wald. Im Gegensatz zur prallen Sonne auf der Straße ist das deutlich besser. Über uns ziehen Wolken auf, Donner grollt, und kurz darauf schüttet es wie aus Eimern. Wir flüchten unter einen Baum, doch bald wird auch der durchlässig. Also werfen wir die Tyvekplane über uns, während Bremsen versuchen, uns zu attackieren. Zwischendurch scheint die Sonne wieder, aber es regnet noch immer glitzernd im Licht. So sitzen wir eine halbe Stunde lang, bis der Regen nachlässt und wir weitergehen.

Vorbei an Kühen und einem Murmeltier, das über die Forststraße huscht, schwitzen wir uns wieder bergauf. Schließlich finden wir einen Zeltplatz bei den Ruinen der Cabane du Penot de Haut. Vor uns liegt ein sichtbar steiler Anstieg und wir wissen nicht, ob es dort oben gute Plätze gibt. Also schlagen wir hier unser Lager auf. Zwei Schäfer knattern im Abendlicht auf ihren ATVs vorbei, die Schäferhunde hocken auf der Ladefläche. Sie sind auf dem Weg zur oberhalb liegenden Cabane de Bonaris.

Kurz bevor wir ins Zelt kriechen, erwischen mich noch Ameisen. Sie beißen mich am Hals, an der Achsel und am Oberschenkel. Es brennt wie Feuer und hinterlässt große Quaddeln. Manchmal frage ich mich, ob ich auf dieser Wanderung einfach vom Pech verfolgt bin.

HRP Tag 9 – Die Hitze wird zum Härtetest

Ruinen von Cabane du Penot de Haut bis Ibon de Estanés: 22,7 km / 1.320 hm / 7 h

Am Morgen besucht uns eine Herde Kühe, die neugierig zu uns ins Zelt schaut und an Abspannleinen schleckt. Persönlicher Raum, bitte? So eine große Kuh wirkt doch irgendwie bedrohlich, wenn man selbst am Boden hockt. Wir sehen zu, dass wir zusammenpacken und aus ihrem Territorium verschwinden.

Wir beginnen mit einem vernünftigen Aufstieg, der bis etwa 10 Uhr noch erträglich ist, dann schiebt sich langsam die Hitze vor. Wir sind mitten in einer Hitzewelle, es gibt keinen Schatten weit und breit, und jede Steigung fühlt sich doppelt so lang an.

Am Lac d’Arlet erreichen wir die erste Berghütte auf dem HRP, vor der einige Packesel grasen. Wir sind etwas verwirrt darüber, wie das mit dem Mittagessen hier funktioniert. Während in den Alpen die Hütten eher wie Restaurants sind, sind die hiesigen Hütten eher auf Übernachtungsgäste ausgelegt. Mittagessen gibt es oft nur zwischen 12 und 14 Uhr, davor können wir mit Glück ein Getränk bestellen. Wir warten etwas und dann können wir Omelette und Couscous bestellen.

Dann wird es so richtig heiß und ich bin froh darüber, dass wir größtenteils eben oder abwärts gehen. Trotzdem schlägt uns die Hitze ordentlich aufs Gemüt. Weit und breit ist kein Schatten zu finden. Zwei Deutsche in der Hütte sagten uns, es gäbe kaum Schatten auf dem Weg nach Gavarnie. Insbesondere Ryan hat mental seinen Tiefpunkt erreicht, er hält die Sonne kaum noch aus und grummelt vor sich hin. Ich bin eher stoisch, denn es lässt sich eh nichts daran ändern.

Eine Schafblockade zwingt uns zum Stehen, dann finden wir für eine Weile einen schattenspendenden Baum und nutzen die Gunst der Stunde, um uns kurz zu erholen. Cordelia flitzt an uns vorbei, für sie scheint die Hitze weniger ein Problem zu sein. Sie plant, ihr Zelt unten am Fluss aufzuschlagen, weil sie sich um das eventuell aufziehende Gewitter sorgt. Wir hingegen setzen darauf, es irgendwo im Wald unter Bäumen aussitzen zu können.

Immer wieder grollt es drohend über uns, während wir den nächsten steilen Aufstieg in Angriff nehmen, der uns Schweiß vom Gesicht tropfen lässt. Als wir eine flache, geschützte Stelle finden, schlagen wir das Zelt auf, um uns gemütlich hinzulegen, während das Gewitter über uns hinwegrollt. Nur um festzustellen, dass das Gewitter vorbeizieht, ohne zu zahlen: kein Regen, keine Blitze.

Um 18 Uhr packen wir wieder zusammen und laufen weiter. Der verbleibende Anstieg bleibt steil, eine Leiter hilft uns, eine Felsstufe zu überwinden. Die Luftfeuchtigkeit macht alles unangenehm, und meine Oberschenkel beginnen schmerzhaft aneinanderzureiben, was mir nur äußerst selten und nur durch extremes Schwitzen passiert. Unser unterhaltsames Hörbuch hilft dabei, uns dieser unangenehmen Gefühle weniger bewusst zu sein.

Wir erreichen einen See, eingerahmt von Bergen. Wir wollen hinein, uns den Schweiß abwaschen und abkühlen. Hunderte winzige Frösche springen vor uns davon, als wir an das Ufer treten. Der Grund ist matschig, und kaltes Wasser ist für meinen kaputten Zeh noch zu schmerzhaft, obwohl der See deutlich wärmer als die Flüsse ist. Ich trete also den Rücktritt an, mehr als meine Beine habe ich nicht nassbekommen.

Am Samstagabend ist hier viel los: Familien, Jugendliche, Zelte. Uns ist nicht nach Gesellschaft, aber wir sind zu erschöpft, noch weiterzulaufen. Wir finden einen guten Platz oberhalb des Sees, weit genug weg von den anderen, mit schönem Blick.

Das Abendessen ist simple Thru-Hiker-Küche: Bohnen, Reis, Linsen, Couscous. Wir verputzen die große Portion ohne Probleme und gönnen uns anschließend den traditionell für harte Tage reservierten Mudslide. Mental haben wir heute einen Tiefpunkt erreicht. Körperlich ging es mir am Orhy schlechter, aber diese Hitze zermürbt uns. Es ist eine überwältigende Landschaft, aber wir sind zu ausgelaugt, um sie wirklich zu genießen. Ich schlafe aktuell neun bis zehn Stunden pro Nacht, obwohl ich sonst mit sieben auskomme. Ein deutliches Zeichen, wie viel Erholung mein Körper benötigt.

Meine Füße tun weh, mein Rücken schmerzt. Ryan kämpft mit Knie-, Hüft- und Achillesschmerzen. Wir legen hier in 20 km so viele Höhenmeter zurück wie auf 35 km auf dem CDT. Ich denke ernsthaft über eine Pause in Candanchú nach und prüfe die Verfügbarkeiten. Mal sehen, wie es uns morgen geht. Ich fühle mich wie ein Versager, alle anderen scheinen das locker wegzustecken, während wir im Struggle-Bus sitzen und nur im Schneckentempo vorankommen. Vielleicht ist das bei dieser Hitze aber tatsächlich valide? Sollte mir eigentlich egal sein, es geht ja darum, was gut für uns ist. Vergleiche mit anderen sind sinnlos. Pause oder Weiterlaufen, beides legitim.

HRP Tag 10 – Ein zäher Tag mit versöhnendem Finale

Ibon de Estanés bis Lac Casterau via Candanchú: 15,4 km / 1.300 hm / 5,5 h

Der Start in den Tag fällt mir schwer. Ich bekomme kaum die Augen auf, mein Körper verweigert sich, zu bewegen. Erst nach sieben Uhr beginne ich langsam, mich fertig zu machen. Ich weiß genau, dass ich das in der Mittagshitze bereuen werde, aber es ändert nichts: Ich komme einfach nicht in die Gänge.

Als wir endlich loslaufen, ist es schon heiß, die Luft steht, und zu allem Überfluss verpassen wir unsere Abzweigung und müssen ein Stück wieder hinauflaufen. Jeder Anstieg fühlt sich wie eine unüberwindbare Wand an, ich bin erschöpft und meine Stimmung pendelt zwischen Traurigkeit, Selbstmitleid und Selbstverachtung, während Schweiß mir in den Augen brennt. Es motiviert mich jedoch, vor dem Small Talk davonzurennen, den Ryan gerade mit einem Spanier begonnen hat.

Wir erreichen einen Fluss, den wir unter großen Felsen gluckern hören können. Normalerweise soll sich oberhalb von hier ein Wasserfall ergießen, aber davon ist bei dieser Trockenheit nichts zu sehen. Ryan wird kreativ, um das kostbare Nass einzufangen, indem er sich unter eine Felsspalte schiebt.

Wir traversieren einen erodierten Hang und bringen den letzten kurzen Anstieg hinter uns, um dann in Candanchú einzumarschieren. Die Straße dorthin ist brütend heiß. Nach nur acht Kilometern bin ich völlig fertig. Wir kommen am örtlichen Lebensmittelladen an, wo Cordelia bereits im Schatten sitzt. Wie macht sie das nur?

Der Einkauf fällt mir nicht leicht. Wir brauchen nur Snacks, aber mir taugt gar nichts von dem, was dort verkauft wird. Kekse? Zu trocken. Schokolade? Zerschmilzt in Windeseile. Am Ende begnüge ich mich mit ein paar Nüssen, irgendeiner Art Fruchtkuchen und einem Pan de Chocolate zum Gleichverputzen. Dazu kommen natürlich Baguette und Salami, immer noch der beste Snack. Brot hält sich jedoch nur begrenzt, daher sind wir froh, Wraps für den späteren Ersatz zu finden.

Ich bin fertig mit der Welt, während ich hier im Schatten hocke. Nicht motiviert, weiterzugehen. Nach einem Zero ist mir allerdings auch nicht in der Hitze. Es gibt ja keine Klimaanlage, die einen davor bewahren könnte. Von hinten schallt Musik aus einem Laden, von der Seite lautes Palaver der Herren am Nebentisch, zwischendurch kreischt auch mal ein Kind. Schließlich reicht es mir und wir beschließen, den 3,6 km langen Road Walk in das Skiresort Astun in Angriff zu nehmen, dort etwas zu essen und dann gegebenenfalls bei erster Gelegenheit bereits das Zelt aufzuschlagen.

Dieser Road Walk ist brutal. Der Asphalt in der Sonne ist wie ein Ofen, die Hitze schlägt uns ins Gesicht, kein Schatten. Ich begebe mich in einen mentalen Tunnel, an dessen Ende Astun liegt, und fokussiere mich auf dieses Ziel. Immerhin ist der Anstieg gemächlich und der Verkehr recht ruhig auf der kurvigen Bergstraße.

Dort erwartet uns das schlechteste Essen aller Zeiten. Wir landen im Yeti-Café und entscheiden uns für Tortilla (sonst nie verkehrt), russischen Salat und Chicken Wings. Nur die Chicken Wings erweisen sich als genießbar. Der russische Salat ist so furchtbar, dass ich Ryan das erste Mal kapitulieren sehe. Nicht mal er kann diese Obszönität aufessen. Er schmeckt wie vom im Sommer geschlossenen Hotel übrig geblieben, aus irgendwelchen Dosen stammend. Die Tortilla ist die trockenste, die ich je gegessen habe. Auch sie schmeckt wie übrig geblieben und in der Mikrowelle erwärmt. Erst später entdecken wir, dass es zwei verschiedene Cafés direkt nebeneinander sind und das links deutlich besser ist. Wir haben uns nur deshalb für rechts entschieden, weil links mehrere laut bellende Hunde sind.

So katastrophal das Essen schmeckt – es reicht, um uns wieder etwas auf die Beine zu bringen. Begeistert angesichts des bereits von hier sichtbaren steilen Anstiegs bin ich nach wie vor nicht, aber es fühlt sich immerhin wieder möglich an.

Statt der steilen Abkürzung wählen wir jedoch die Serpentinen der Forststraße, Hörbuch im Ohr, Schritt für Schritt den Anstieg hinauf. Die Wolken schieben sich gnädig vor die Sonne, und als wir oben ankommen, liegt der mächtige Pic du Midi d’Ossau (2.884 m), ein Felsgigant, umgeben von Bergseen und grasenden Kühen, vor uns. Für einen Moment ist alles vergessen – die Müdigkeit, die Schmerzen, die Hitze. Ich bin stolz, es hierher geschafft zu haben, obwohl am Morgen alles nach Aufgabe aussah.

Der Pic du Midi d’Ossau ist nicht nur ein markanter Blickfang, er erzählt auch von der bewegten Vergangenheit der Pyrenäen. Wo er heute wie ein dunkler Zahn aus der Landschaft ragt, stand einst ein Vulkan. Sein heutiger Gipfel ist in Wahrheit der freigelegte Schlot. Das harte vulkanische Gestein hat den Kräften der Erosion länger standgehalten, während die weicheren Schichten rundherum nach und nach abgetragen wurden.

Vor 500 Millionen Jahren lag hier noch ein Ozean, später türmte sich ein Massiv auf, das einst so hoch wie der Himalaja war. Über Jahrmillionen erodierte dieses Urgebirge fast vollständig, bis vor etwa 75 Millionen Jahren eine neue tektonische Kollision begann: Die afrikanische Platte drückte die iberische Kruste nach Norden. So entstanden die Pyrenäen, die bis heute im Kern aus widerstandsfähigem Granit und Kalk bestehen. Wind, Regen, Eiszeiten und Gletscher haben die Berge seitdem immer wieder neu geformt, Täler ausgeschürft und Cirques geschaffen, und sie zu der wilden Schönheit modelliert, die wir heute erleben dürfen.

Beim Abstieg grollt es pünktlich um 17 Uhr wieder über uns, doch auch dieses Mal zieht das Gewitter vorbei. Unterwegs filtern wir Wasser an einem Bach und treffen eine Gruppe jugendlicher Wanderer, die ohne Rucksäcke und ohne Wasser unterwegs sind. Wir leihen ihnen unseren Filter, und sie trinken gierig.

Am Lac Casterau schlagen wir unser Lager auf. Cordelia ist schon da, ihr Zelt steht in einem Steinring. Sie erzählt uns, dass sie gerade derselben Gruppe ihren Filter geliehen habe. Die müssen echt durstig gewesen sein.

Ich nehme ein Bad im See, was hier einfacher ist, da der Grund weniger matschig ist und es schnell tief wird. Je länger ich drin bin, desto mehr schmerzt der Zeh. Es gilt also, schnell zu sein.

Auch diesen Abend erwischt uns das Gewitter nicht und es bleibt bei fernem Grollen. Wir haben heute nur 15 Kilometer geschafft, aber ich habe mehr geschafft, als ich mir heute Morgen zugetraut hätte. Vielleicht braucht mein Körper einfach diese Pausen, um sich zu erholen. Am Ende bleibt vor allem eines: Erleichterung und die Erinnerung an einen Tag, der mich von der Hölle in ein kleines Paradies geführt hat.

HRP Tag 11 – Zwischen Käseglück und Schwindelpfad

Lac Casterau bis Lacs d’Arrémoulit: 18,4 km / 1.740 hm / 7,5 h

Der HRP hat seine eigene Art, jeden Tag unvergesslich zu machen. Schon der Start in diesen Tag ist besonders: Im hellen Licht des Vollmonds brechen wir früh auf, Venus und Jupiter stehen direkt über dem markanten Pic du Midi d’Ossau. Der Gipfel wirkt im Dämmerlicht noch imposanter, ein gewaltiger Felszahn, der sich über 2.800 Meter erhebt.

Wir schaffen den Aufstieg zum nächsten Pass, bevor die Sonne uns in diesem Tal erreicht. Murmeltiere machen lautstark unsere Anwesenheit bekannt, während wir durch ein großes Blockfeld steigen. Ich setze meine Schritte vorsichtig, denn nicht jeder Fels sitzt fest. Am Col de Peyreget legen wir eine Pause ein, essen ein Frühstückssandwich und blicken hinunter auf die Seen und das Refuge de Pombie. Direkt über uns erhebt sich der nackte Fels des Pic Midi d’Ossau, dessen Besteigung wie eine anspruchsvolle Klettertour aussieht. Cordelia überholt uns hier wieder.

Die ersten Wanderer kommen vom Refuge hinauf und wir machen uns an den Abstieg dorthin, vorbei an einem herrlich grün schimmernden See. Die Sonne brennt auf der Südseite bereits ordentlich herab und wir suchen Zuflucht im Schatten der Hütte, die an einem herzförmigen See liegt. Dort füllen wir unsere Wasserflaschen auf und gehen weiter bergab bis zur Straße. Das letzte Stück führt jedoch steil bergauf, nur 50 hm, aber sie kosten mich alles in der prallen Sonne. Langsam schleiche ich den Hang hinauf, während ich den Glauben daran verliere, jemals die Straße zu erreichen.

Hier soll man Käse kaufen können. Aber ich brauche erst einmal Schatten. Ein Felsen am Straßenrand bietet uns genug davon, um ein weiteres Sandwich zu verputzen und wieder mal ordentlich zu jammern und den vor uns liegenden Aufstieg zu verfluchen.

Nach der Pause sind wir bereit, es mit dem Käse zu versuchen. Ein Paar verkauft ihn hier in einer kleinen Hütte. Der Moment hat etwas Skurriles: Erst lobt sie meine Schönheit, dann er Ryans. Dann versuchen sie, uns noch Blumen und Armbänder zu verkaufen. Nach einigem Hin und Her haben wir unseren Schafskäse für 7 € erworben. Und verdammt, dieser Käse war das alles wert. Er schmeckt richtig gut! Ich wünschte, wir hätten mehr davon mitgenommen.

Der Weg hinauf ist heiß, steil und fordernd. Ich kämpfe mich im Schneckentempo von Schattenstelle zu Schattenstelle, in 200-Höhenmeter-Abschnitten. Wir folgen einem Fluss für eine Weile, daher ist zumindest das Wasser gesichert. Zuerst machen wir Halt an einer Brücke, wo wir noch einmal ordentlich trinken. Ich habe beschlossen, heute mein Bestes in Sachen Hydrierung zu geben. Die nächsten zwei Pausen machen wir im Schatten von großen Felsen. Zum Glück weht ein angenehmer Wind und unser Hörbuch übernimmt den Rest. Heute beginnt bei uns der Hiker Hunger zuzuschlagen, wir essen deutlich mehr als sonst und sind froh über die Käseergänzung.

Später sorgen aufziehende Wolken für Erleichterung, wie jeden Nachmittag in den vergangenen Tagen. Schließlich erreichen wir das Col d’Arrious mit See unter uns. Doch der spannendste Abschnitt wartet erst noch: die Passage d’Orteig, ein schmaler Pfad hoch über einem Abgrund, gesichert mit Eisenketten. Gegen diesen spektakulären Steig verblasst sogar Angels Landing im Zion Nationalpark. Ich versuche bei den heikleren Passagen nicht nach unten zum See tief unter uns zu blicken. Über der Bergkette, aus der wir gerade kommen, können wir Regen herabkommen sehen, aber wir bleiben auch heute verschont.

Vom höchsten Punkt haben wir einen fantastischen Blick auf drei Seen, und das Refuge d’Arrémoulit, das leider seit 2023 renoviert wird und demnach keine erhoffte Mahlzeit bereithält. Wir steigen hinab und suchen entlang des felsigen Seeufers nach einem geeigneten Zeltplatz, was nicht ganz einfach ist. Einige Wanderer haben bereits die guten Plätze belegt. Zwischen den Felsen finden wir einen einsamen, windgeschützten Spot mit kleinem Teich.

Es ist erst kurz nach 17 Uhr, aber nach über 1.700 hm auf 18 km haben wir genug für heute. Vor uns liegt ein technisch anspruchsvoller Abschnitt. Im Verlauf des Abends wird es wieder sonnig und wir genießen diese wunderschöne Lage am Lac d’Arrémoulit.

HRP Tag 12 – Herausforderung am Port du Lavédan

Lacs d’Arrémoulit bis Embalse de Campoplano: 17 km / 1.140hm / 8 h

Wir starten wieder um sechs Uhr morgens, noch in der Dunkelheit. Zunächst geht es über ein großes Blockfeld, über das ich die beste Linie stets neu evaluiere. So erreichen wir den ersten Pass. Jetzt wird es spannend. Vor uns liegt eine Traverse über Geröll, dann eine Felsflanke, schließlich eine Kletterstelle im II. Grad (UIAA) zum Port du Lavédan.

Was sich jetzt so lapidar liest, dauert in Wirklichkeit zwei Stunden – für gerade einmal 1,7 Kilometer. Das Gelände ist ausgesetzt und steinschlaggefährdet, wofür ich gerne einen Helm dabei gehabt hätte. Dazu gähnende Abgründe, die bei einem Fehler fatale Folgen hätten. Die Linie über ein schmales Felsband macht mir besonders Sorgen, aber Ryan ist sich sicher. Mir ist das nicht geheuer und mein Kopf macht nicht mehr mit. Ich erstarre. All die möglichen Todesszenarien gehen mir durch den Kopf. Ryan und Cordelia zuzusehen, macht die Sache nur noch schlimmer, denn ungefährlich sieht das ganz und gar nicht aus. Und es hilft auch nicht gerade, dass ich Flashbacks davon habe, wie ein Freund vor Jahren in ähnlichem Gelände vor meinen Augen abgestürzt ist. Er hat es zwar schwer verletzt überlebt, aber das Erlebnis hat einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Ich sitze auf einem Felsen und versuche, die aufkommende Panik zu bekämpfen. Ryan kommt zurück, und führt mich dann langsam über das Felsband, während ich mich nur auf seine Füße direkt vor mir konzentriere und darauf, meine eigenen genau dorthin zu setzen. Ich schaue nirgendwo anders hin. Und so schaffe ich es hinüber.

Auf der nächsten Linie übernehme ich wieder die Führung. Das gibt mir Sicherheit. Kontrollzwang vielleicht? Ich habe mehr Erfahrung als Ryan und ich fühle mich einfach besser dabei, den für mich vernünftig aussehenden Weg zu wählen. Die letzte Felsstufe im II. Grat in einer Rinne kurz vor dem Pass ist noch einmal aufregend, aber mein Kopf spielt wieder mit. Dann ist es geschafft: Wir stehen erleichtert oben. Der Abstieg auf der anderen Seite wirkt dagegen harmlos. Ich mag mir gar nicht vorstellen, hier in die andere Richtung zu gehen und diese Felsstufe im Abstieg überwinden zu müssen. Nein, danke.

Der Abstieg zum Refuge de Larribet dauert weitere anderthalb Stunden, vorbei an glitzernden Bergseen. Unterwegs treffen wir ein einsames, mitgenommen aussehendes Schaf, das uns entgegenblökt, als wolle es Anschluss suchen. Offenbar ist es verloren gegangen, denn wir können weit und breit keine anderen Schafe sehen. Wir versuchen erfolglos, es dazu zu bewegen, mit uns abzusteigen, aber es ist hoffnungslos. Ich schätze, dieses Schaf hat sich für ein Leben in Freiheit entschieden.

Am Refuge gönnen wir uns Orangina und Blaubeerkuchen. Wir kommen nie zur rechten Zeit zu den Refuges, vor 12 Uhr gibt es nicht viel. Toiletten gibt es wegen eines defekten Tanks leider auch nicht.

Danach wird es zäh, die Hitze drückt. Der Weg führt entlang eines Flusses, aber ich kann das kaum würdigen. Viele Wanderer kommen hinauf und wir müssen immer wieder ausweichen. Am Ende können wir bereits sehen, wo wir auf der anderen Seite wieder hinaufsteigen müssen – und zwar in der prallen Sonne. Also, Hörbuch rein und losgeschwitzt.

Verzweifelt suchen wir nach Schatten für eine Mittagspause, aber es ist weit und breit keiner zu sehen. Der Fluss sieht zwar nett aus, aber ohne Schatten ist er für uns wertlos. Wir erreichen ein Plateau und können bereits in der Ferne einen großen schattenspendenden Felsen sichten, allerdings ist dieser von einer Gruppe belegt. Wir finden einen schmalen Streifen Schatten neben einem Baum, der leider ziemlich pieksig und von Fliegen umgeben ist. Besser als nichts. Nach einer Weile verlässt die Gruppe den Felsen und wir ziehen um. Soviel besser, und der Fluss ist direkt daneben, um sich kurz abzukühlen und die Wasservorräte aufzufüllen. Es fällt schwer, sich wieder zu erheben. Ich könnte hier ewig liegenbleiben.

Tapfer kämpfen wir uns weiter bergauf, über zahlreiche Serpentinen, während langsam wieder die allnachmittäglichen Wolken aufziehen und den Aufstieg angenehmer machen.

Nach 1,5 Stunden stehen wir am Port de la Peyre Saint-Martin. Vor uns läge noch der 2.706 m hohe Col de Cambalès, aber die Wolken wirken dunkel und bedrohlich. Es kann gut sein, dass uns auch heute nichts erwischt, aber riskieren will ich das nicht. Das Col de Cambalès soll wieder anspruchsvoll sein, alleine der Abstieg soll 3 Stunden in Anspruch nehmen.

Wir denken darüber nach, ob wir hier zelten sollten und es morgen früh versuchen oder ob wir 100 Höhenmeter zum See Embalse de Campoplano absteigen und dann über das Col de la Fache weitergehen sollten. Wir beschließen, kein Risiko einzugehen, und steigen zum See ab.

Unten treffen wir Cordelia wieder, die trotz der Hitze unbeirrt durchgezogen hat und schon seit einer Weile am Zeltplatz sitzt. Sie hat sich ebenfalls dazu entschieden, den Pass nicht zu riskieren. Ich empfinde es als erstaunlich, wie viel weniger ihr die Hitze zu schaffen macht. Sie geht stets unermüdlich weiter, während wir uns im Schatten aalen, und ist dann bereits zwei Stunden vor uns am Zeltplatz.

Wir überlegen kurz noch weiter zum Col de la Fache zu gehen, entscheiden uns dann aber dafür, hierzubleiben. Wir haben genug für heute.

HRP Tag 13 – Von Pässen zu einem explodierenden Schornstein

Embalse de Campoplano bis Refuge des Oulettes de Gaube: 17,5 km / 1.410 hm / 7,5 h

Wir stehen wieder früh auf – um 5:30 Uhr klingelt der Wecker. Im Dunkeln ziehen wir los, bewegen uns im Schein unserer Stirnlampen auf das Col de la Fache zu. Am Wegesrand entdecke ich einen Frosch, und zum ersten Mal seit Tagen ist es angenehm kühl.

Der Aufstieg führt durch einen felsigen Canyon mit kleinen Wasserfällen. Über uns steht der noch fast volle Mond, während die Wolken am Pass rot zu glühen beginnen. Meine Beine fühlen sich heute etwas wacklig und schwach an. Doch Schritt für Schritt nähern wir uns dem See unterhalb des Passes. Der im Schotter erodierte Trail führt uns rechts daran vorbei und zum Pass. Im Morgenlicht zeichnen sich die Bergsilhouetten klar gegen den Himmel ab.

Nach dem Abstieg erreichen wir das Refuge Wallon, wo es wieder einmal nichts für uns gibt, nicht mal ein Getränk. Wir kommen stets zur falschen Zeit an den Refuges an, meist um zehn Uhr, wenn gerade geputzt wird. Aus den Lautsprechern hämmert Techno, was wir als Rauswerfmusik interpretieren. Wir rasten trotzdem kurz im Schatten und setzen dann den Abstieg fort.

Der Anstieg zum nächsten Pass führt vorbei an einem rauschenden Fluss und einem Wasserfall, der die Felsen hinunterstürzt. Mittlerweile ist es warm, aber nicht so drückend wie in den vergangenen Tagen. Auf den Pässen ziehe ich mir heute sogar meine Fleecejacke an, da der Wind kühl ist. Die Wolken ziehen heute früher auf und so verbringen wir unsere Mittagspause an einem Bergsee, ohne Schatten suchen zu müssen.

Dann erreichen wir das Col d’Arratille über ein paar steile Kraxelstellen. Der nächste Pass wartet bereits um die Ecke auf uns, also halten wir uns nicht lange auf. Ein schmaler Pfad zieht sich am Geröllhang entlang, der Blick fällt tief ins Tal, und jeder Schritt will mit Bedacht gesetzt sein. Das letzte Stück hinauf zum Col des Mulets ist dann noch einmal richtig steil. Eine Gruppe lärmender Männer sitzt am Pass, ich halte es nicht lange aus. Eine kurze Trinkpause, und dann machen wir uns an den Abstieg, der auf dieser Seite deutlich einfacher ist.

Schließlich öffnet sich ein Plateau mit grüner Wiese, einem gletschergespeisten Fluss und Blick auf die gewaltige Nordwand des Vignemale. Mit 3.298 Metern ist er der höchste Berg der französischen Pyrenäen. Sein zerklüfteter Gletscher wirkt zum Greifen nah. Wir überlegen kurz, noch weiterzugehen, aber ein weiterer 600-hm-Aufstieg plus Abstieg ist für mich heute nicht mehr drin.

Wir holen uns Getränke und Blaubeerkuchen, die wir hungrig verputzen. Cordelia ist, wie immer, bereits hier und stellt uns einer Gruppe GR-10-Wanderer vor. Der US-Amerikaner Adam reist gerade durch Europa. Er spricht exzellentes Französisch, wie Cordelia, auch wenn sie sehr bescheiden diesbezüglich ist. Wenn man in der Lage ist, eine lockere Unterhaltung mit Muttersprachlern zu führen, ist man meiner Meinung nach schon ziemlich gut.

Mithilfe der Sprachkenntnisse und fehlenden Kontaktscheuheit Cordelias melden wir uns für das Abendessen an. Plötzlich ein lauter Krach, etwas fällt vom Dach, ich springe schnell unter das Dach. Ein Stein schlägt nah bei mir und Cordelia auf den Boden. Offenbar ist ein Schornstein explodiert. Die Aufregung legt sich schnell, erstaunlich unbeeindruckt setzen alle ihren Alltag fort.

Abendessen gibt es um 19 Uhr, also haben wir noch zwei Stunden und wir schlagen unser Zelt auf der Wiese auf. Heute erwischt uns der Regen dann doch, aber das Zelt steht bereits, als es anfängt zu tropfen.

Wir gehen zum Abendessen, was ganz anders ist als in den Hütten in den Alpen. Es ist eher wie auf den Caminos. Lange Tische, allen Gästen wird zur gleichen Zeit das gleiche Menü serviert. Zuerst Suppe, dann eine fantastische Lasagne und zum Abschluss Kuchen mit Käse. Eigentlich ein Festmahl, doch mein Magen rebelliert. Der Käse, den wir vor ein paar Tagen gekauft haben, hat mir gehörig auf den Magen geschlagen. Aber er war zu köstlich, um zu widerstehen. Ich bin erleichtert, als alle Gänge serviert sind und ich zum Zelt zurücklaufen kann. Die wenigen Stunden Socializing waren auch genug, um meine soziale Batterie zu entladen, und ich bin froh, wieder etwas Zeit für mich zu haben.

HRP Tag 14 – Vom Vignemale nach Gavarnie

Embalse de Campoplano bis Gavarnie via Petit Vignemale: 22 km / 990 hm / 6 h

Der Morgen beginnt mühsam, denn ich komme wieder mal kaum hoch. Doch schon beim Aufstieg zur Hourquette d’Ossoue ist die Müdigkeit verflogen. Vor uns erhebt sich die Nordwand des Vignemale, an deren Felsen sich die Reste des Gletschers festklammern. Heute geht es leichter bergauf, vielleicht dank der Lasagne von gestern Abend. Es ist seltsam, da ich jeden Abend mit unserem Essen satt bin, aber etwas Wichtiges scheint zu fehlen. Denn nach richtigem Essen geht es mir am nächsten Tag so viel besser. Kohlenhydrate und Proteine haben wir genug, vielleicht ist es der Mangel an Fett?

Am Pass lassen wir die Rucksäcke stehen und nehmen den Petit Vignemale (3.032 m) mit. Nur 300 zusätzliche Höhenmeter, aber dennoch anstrengend. Oben weht ein kalter Wind, ich ziehe sogar das Fleece an und friere leicht. Was für ein herrlicher Gegensatz zur Hitze der letzten Tage – und was für eine Aussicht!

Kurz geht es hinab zum Refuge de Bayssellance, dann folgen 1.800 Höhenmeter Abstieg: vorbei an Wasserfällen, an einem See, immer weiter bergab. Wir pausieren kurz im Schatten eines Felsens, bevor uns die letzten Kilometer am Fluss entlang führen, wo wir Mittagspause und Katzenwäsche machen. Gegen 15 Uhr erreichen wir Gavarnie.

Ich habe mich so sehr auf diesen Ort gefreut: auf Essen und einen Zeroday im Hotelzimmer. Stattdessen erwartet uns ein Albtraum. So viele Menschen, Reisebusse, Eselkarawanen, Lärm, Gewusel. Die Restaurants sind voll oder servieren gerade nicht, Schatten ist nirgends zu finden. Ich bin überwältigt von all dem. Und weil wir tagelang keinen Mobilfunkempfang hatten, konnten wir nichts vorab buchen, und jetzt ist alles ausgebucht.

Wir finden eine durchgehend geöffnete Pizzeria, essen mittelmäßige Pizza und starren verzweifelt ins Handy. Ein Hotelzimmer taucht auf Booking.com auf und ich buche sofort. Jemand hat wohl storniert. Wir raffen unsere Sachen zusammen, aber als wir dort ankommen, teilt uns die Dame mit Bedauern mit, dass sie das stornierte Zimmer vor 15 Minuten neu vergeben hat, es war nur noch nicht im System aktualisiert.

Wir sind enttäuscht, aber da ist nichts zu machen. Die einzige verbleibende Möglichkeit ist der Campground am anderen Ende der Stadt. Wir erledigen unseren Resupply in dem einzigen kleinen Lebensmittelladen, dessen Auswahl sehr begrenzt ist. Aber wir brauchen nur zwei Tage bis zur nächsten Stadt. Wir kaufen Nudeln und verschiedene Tütensuppen, dazu Tomatenmark, um daraus Soßen zu zaubern. Dazu ein paar Snacks und natürlich Käse, Salami und Baguette. Und Orangina.

Am Campground sehen wir das Schild „Complet“. Verdammt. Nicht mal auf dem Campground ist Platz für uns? Wir evaluieren unsere Optionen: zwei Kilometer zurück zur Gîte d’étape laufen, wo Cordelia zeltet, oder weiterlaufen und auf dem Trail zelten. Wir wollen aber unbedingt eine Dusche und wir müssen auch unsere Powerbanks aufladen, die uns durch die letzten neun Tage gebracht haben. Also gehen wir zum Campground, in der Hoffnung, wenigstens das erledigen zu können. Ich frage, ob sie vielleicht nicht doch noch Platz für ein Zelt haben. Die Dame schaut in ihr Buch und sagt dann, dass wir bleiben können. Erleichterung. So können wir morgen noch in der Stadt abhängen, dann am späten Nachmittag aufbrechen und haben somit auch einen Zero-Day. Ich freue mich, morgen mal ausschlafen zu können.

Während die Esel am Flussufer lautstark iahen und jedes Auto über die Holzbrücke wie Donner klingt, genießen wir die Grundlagen: eine Dusche, frische Wäsche, einen vollen Akku. Ich verzehre außerdem eine ganze Packung Fromage Blanc mit Erdbeermarmelade – himmlisch.

So anstrengend Gavarnie ist, die Kulisse erklärt die Menschenmassen: Die gewaltige Felsarena des Cirque de Gavarnie mit ihrem gigantischen Wasserfall ist schlicht atemberaubend.

Abends stellen junge Spanier ihre Zelte nicht weit von uns auf. Dieselben, die schon in der Pizzeria lautstark telefoniert haben, jeder über Lautsprecher. Bis Mitternacht feiern sie, und wir haben unsere Zweifel, ob wir hier wirklich zur Ruhe kommen.

Hier geht’s zum dritten Abschnitt auf dem HRP:

HRP 3: Über hohe Pässe und durch wilde Stürme – Gavarnie bis Benasque

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