Unser CDT Southbound Abenteuer beginnt an der kanadischen Grenze im Glacier National Park. Es ist ebenso rau wie wunderschön: viel Schnee, starker Wind und viele Zecken. Wir erleben eine Scheinattacke von einem Elch, bekommen Sonnenbrand, überqueren heikle Schneefelder und eisige Flüsse. Doch wir staunen auch über tosende Wasserfälle, blühende Wiesen, schneebedeckte Berge und grüne Täler voller Wildtiere.
Der Start ist holprig: Unser Flug von Kalifornien nach Montana wird auf den nächsten Tag verschoben, und da der Zug nach East Glacier Village nur frühmorgens fährt, versuchen wir per Anhalter dorthin zu gelangen. Nach fünf Mitfahrgelegenheiten – unter anderem mit einem Campervan-Fahrer, einer Rafting-Mitarbeiterin, einem bewaffneten Farmer und einem freundlichen Paar aus Colorado – erreichen wir East Glacier Village. Kurz vor unserem Ziel klart der Himmel auf, doch vor Ort empfängt uns ein kalter, böiger Wind.
Wir gehen zum Looking Glass Hostel, wo uns Luna freundlich begrüßt und wertvolle Tipps gibt, unter anderem zur Nutzung von Bärenspray. Wir treffen zwei weitere Wanderer: einen, der wegen des starken Winds abbrechen musste, und einen CDT-Alumnus namens „Easy-Does-It“. Die Herberge bietet alles, was man benötigt – Dusche, Küche, Campingplatz, Ausrüstung und gute Stimmung. Aufgrund des schlechten Wetters schlafen wir drinnen auf dem Boden. Es ist kalt, und der Wind heult, aber die Sonne soll bald zurückkehren. Hoffentlich wird alles gut.
CDT Tag 1 – Chief Mountain bis Elizabeth Lake
16,5 km / 302 hm / 3,5 h
Überraschenderweise war es ganz einfach, unsere Permits für den Glacier National Park zu bekommen. Wir hatten uns vorher ein bisschen Sorgen gemacht, aber so früh in der Saison war alles entspannt. Und es sieht so aus, als hätten wir das perfekte Wetterfenster vor uns.
Drei Mitfahrgelegenheiten bringen uns schließlich zum Startpunkt unseres großen Abenteuers an der kanadischen Grenze. Der erste Tag ist mit 16,5 km recht kurz, um uns einzugewöhnen, aber es passiert schon einiges: Ein Elch startet einen Scheinangriff auf uns, und wir entwickeln direkt „Bearanoia“, denn wir sind noch nie zuvor in Grizzly-Gebieten gewandert. Ausgerüstet mit Bärenspray machen wir ständig Lärm, um die Tiere auf uns aufmerksam zu machen.
Immer wieder denke ich an die Worte:
When it’s brown, lay down.
When it’s black, fight back.
When it’s white, goodbye.
Wir wandern durch Wiesen voller blühender Wildblumen und folgen rauschenden Flüssen, während im Hintergrund schneebedeckte Berge aufragen. Der Höhepunkt ist ein tosender Wasserfall, perfekt vom Sonnenlicht beleuchtet, dessen Strahlen sich ihren Weg durch die sprühende Gischt bahnen.
Unsere erste Nacht verbringen wir am Elizabeth Lake Campground. Andere Camper erzählen uns, dass ein Grizzly gerade erst durch ihren Zeltplatz spaziert sei. Sie konnten ihn leicht vertreiben, aber wir sind trotzdem ein wenig angespannt. Die obligatorischen Bärensicherungen im National Park ergeben auf jeden Fall Sinn. Statt weiterer Bärenbegegnungen greift uns am Morgen ein sehr territoriales Schneehuhn an. Grizzlys sind offensichtlich nicht die einzigen Tiere, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
CDT Tag 2 – Elizabeth Lake bis Many Glaciers
26,7 km / 1.083 hm / 6,5 h
Heute steht unser erster Pass im Glacier National Park an. Der Aufstieg zum Red Gap Pass ist lang, aber moderat. Es sind nur noch wenige Schneefelder übrig, und die schwierigeren Stellen lassen sich gut umgehen. Der Weg nach oben bietet uns traumhafte Ausblicke, unter anderem eine Vogelperspektive auf den Elizabeth Lake.
Auf dem Weg hinunter müssen wir einige Schneefelder queren und rutschen auch mal auf dem Hintern runter. Je weiter der Tag voranschreitet, desto weicher wird der Schnee, und die Wegfindung durch die Bäume kostet uns etwas Zeit. Schließlich gelangen wir in ein grünes Tal mit einem Fluss, der uns zum wunderschönen Poia Lake führt.
Die letzten 10 Kilometer führen durch den Wald, mit gelegentlichen Ausblicken. Ich singe dabei ständig „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ aus dem Dschungelbuch, um die Bären wissen zu lassen, dass wir unterwegs sind. Ich finde, das Lied passt perfekt – wer könnte sich von einem Lied bedroht fühlen, das Balu der Bär singt?
Doch statt eines Bären steht plötzlich ein großer Elch vor mir. Langsam gehe ich ein paar Schritte zurück, um ihm Platz zu lassen, und rede ruhig mit ihm. Wir geben ihm Raum, bis er schließlich im Wald verschwindet.
Am Ende erreichen wir die Straße zum Many Glaciers Campground. Wir sind ziemlich erschöpft und halten direkt den Daumen raus. Das erste Auto hält an – Glück für uns, denn nur wenige Minuten später sehen wir eine Bärenmutter mit ihren zwei Jungen am Straßenrand. Zu Fuß wären wir genau in sie hineingeraten. Jetzt können wir sie sicher vom Auto aus beobachten. Die beiden Jungen springen herum, stellen sich auf die Hinterbeine, schauen neugierig in die Gegend und zeigen uns ihre niedlichen kleinen Ohren.
CDT Tag 3 – Many Glacier bis Reynolds Creek
23,3 km / 922 hm / 6 h
Heute steht der Piegan Pass auf dem Plan, der zu dieser Jahreszeit als der kniffligste gilt, da dort oben noch einiges an Schnee liegt. In den vergangenen Wochen war das Wetter ziemlich mies, und andere Thru-Hiker vor uns mussten umkehren. Aber mit dem aktuellen Wetter haben wir die besten Chancen, es zu schaffen.
Wir wandern am Swiftcurrent Lake vorbei, der von schneebedeckten Bergen umgeben ist und einfach eine traumhafte Kulisse bietet, und beginnen dann unseren Aufstieg zum Piegan Pass.
Schon die ersten Ausblicke auf die beeindruckende Landschaft lassen uns staunen. Rechts von uns ragen steile Felswände in die Höhe, und wir hören immer wieder Lawinen, die in den Rinnen hinab donnern. Zum Glück sind diese Felswände weit genug entfernt, um uns nicht direkt zu gefährden, aber sie erinnern uns daran, dass die Zeit drängt – je weiter die Tageszeit voranschreitet, desto weicher und instabiler wird der Schnee. Die Wegfindung durch die Schneefelder kostet uns jedoch mehr Zeit, als wir erwartet haben.
Am Ende des Tals erwartet uns ein atemberaubender Wasserfall, der sich durch die verschneiten Felsen in die Tiefe stürzt. Es ist eines der schönsten Naturwunder, die ich jemals gesehen habe – und ich war schon an vielen wunderschönen Orten dieser Welt.
Je weiter wir aufsteigen, desto mehr Schneefelder müssen wir überqueren. Bis jetzt ist alles gut machbar, und keine der Passagen wären im Falle eines Ausrutschers fatal. Doch eine Traverse weiter oben sieht schon aus der Ferne heikel aus. Ich bewege mich vorsichtig mit meinem Eispickel darüber, den ich dazu nutze, mich zu sichern. Mehr als der Schnee selbst beunruhigen mich jedoch die Felsen über uns, die diesen Ort nicht gerade sicherer machen, wenn wir uns zu lange hier aufhalten.
Umso erleichterter sind wir, als wir um 14 Uhr endlich den Pass erreichen. Hier stelle ich fest, dass mir beim Aufstieg mein Geldbeutel aus meiner Bauchtausche gerutscht sein muss. Nichts kann mich dazu bringen, mich noch einmal über dieses Schneefeld zu begeben. Also betrachte ich den Verlust als ein Opfer an die Berggötter.
Die andere Seite ist deutlich einfacher, aber der viele Schnee verlangsamt uns. Als wir schließlich unser Camp erreichen, sind unsere Füße völlig erledigt. Alles, was ich jetzt noch will, ist mich hinzulegen und sie hochzulegen.
CDT Tag 4 – Reynolds Creek bis Red Eagle Lake Head
24,3 km / 439 hm / 5,5 h
Der Morgen beginnt mit einem weiteren Elch auf dem Trail. Zum Glück ist er entspannt, und wir warten geduldig, bis er weiterzieht. Wir passieren mehrere kleinere Wasserfälle, bis wir schließlich zu den beeindruckenden Saint Mary Falls kommen, wo wir von der Gischt nass gespritzt werden.
Weiter geht’s durch den Wald, der voller umgestürzter Bäume ist, und dann am Saint Mary Lake entlang, das uns mit ein paar schönen Ausblicken belohnt. Der Trail ist hier allerdings ziemlich zugewachsen, und es gibt jede Menge Brennnesseln. Ich empfehle lange Hosen, um Kratzer und Stiche zu vermeiden. Unterwegs sehen wir viele Spechte, Streifenhörnchen und niedliche kleine Murmeltiere.
Dann ändert sich die Landschaft dramatisch, als wir in ein abgebranntes Gebiet kommen. Es wirkt so gespenstisch – alles ist tot und still. Dazu ist es schwül und voller Mücken, was die beklemmende Atmosphäre noch verstärkt. Ich habe ständig das Gefühl, dass hinter jeder Ecke ein Bär lauert, also machen wir ununterbrochen Lärm. Neben dem klassischen „Hey Bear“-Ruf adressiere ich auch andere Tiere, damit diese sich nicht ausgeschlossen fühlen.
Am Abend sehen wir noch einen Elch, der entspannt im Gras liegt. Um uns herum schwirren Fliegenschwärme, aber nichts versucht uns zu beißen oder zu stechen. Wir müssen nur aufpassen, die Fliegen nicht versehentlich zu verschlucken.
Unser Tag endet am Red Eagle Lake, wo wir den Campingplatz ganz für uns allein haben. Wir unternehmen einen kurzen Sprung ins kalte Wasser, machen ein Lagerfeuer und genießen die Sonne.
Die Backcountry-Campsites im Glacier National Park haben in der Regel 4 bis 5 Stellplätze, einen Pfosten, um unser Essen aufzuhängen (ein sogenannter „Bear Hang“) mit einem Bereich zur Essenszubereitung und ein Plumpsklo. Das Erste, was wir nach unserer Ankunft tun, ist, unser Essen aufzuhängen, damit die Bären nicht herankommen. Die Toilette zu verlassen, ist ein wenig gruselig – sie ist super dunkel, und ich weiß nicht, was draußen gerade vor sich geht, während ich drinsitze.
CDT Tag 5 – Red Eagle Lake bis Atlantic Creek
15,5 km / 976 hm / 4 h
Heute steht der nächste Pass im Glacier National Park an: der Triple Divide Pass. Wir erreichen den Schnee und schlängeln uns wieder durch die Bäume, wo wir Spuren eines Berglöwen im Schnee entdecken. Um uns herum stürzen mehrere Wasserfälle die steilen Wände hinab – ein beeindruckender Anblick.
Die Navigation durch den Schnee dauert erneut lange, aber keine der Stellen ist wirklich heikel. Unterwegs stoßen wir auf ein weißes Schneehuhn, dessen Federn noch nicht auf Sommerbraun gewechselt haben. Es beschwert sich lautstark, und ich vermute, dass es hier ein Nest hat.
Ein Falke kreist über uns, genau in dem Moment, als wir den Pass erreichen, und die Sonne schenkt uns ein paar Sekunden Wärme nach einem ziemlich kühlen Aufstieg. Was für ein schöner Moment.
Auf der anderen Seite bietet sich uns ein traumhafter Blick ins Tal, wo der Grizzly Medicine Lake in schimmernden Blau- und Grüntönen leuchtet. Wir denken, das Schlimmste wäre geschafft. Oh, wie falsch wir liegen. Diese Seite ist zwar größtenteils schneefrei, aber der Trail schlängelt sich über 2,5 km direkt am Berghang entlang. Überall gibt es kleine Schneefelder, die sich in Rinnen gesammelt haben, und wir müssen sie queren. Einige davon sind richtig heikel – nicht, weil sie besonders schwer zu überqueren sind, sondern weil sie instabil sind, mit dünnen Schneebrücken. Mit jedem Tag werden sie unsicherer, bis sie irgendwann abrutschen oder zusammenbrechen. Ich hoffe wirklich, dass niemand genau dann hier unterwegs ist. Das ist etwas, das niemand kontrollieren kann, egal, wie erfahren man ist.
Noch mehr Sorgen als die Schneefelder macht mir, dass dies ein perfektes Gebiet für Steinschläge ist. Ich will hier so schnell wie möglich raus, aber die endlosen Traversen bremsen uns immer wieder. Immerhin sehen wir zwei Bergziegen und ein großes, flauschiges Murmeltier, das wie ein Stachelschwein durch die Felsen watschelt.
Endlich kommen wir wieder ins Grüne, und die Bäume sind ein sehr willkommener Anblick. Ich bin erleichtert. Wir haben es ein weiteres Mal geschafft.
CDT Tag 6 – Atlantic Creek bis Two Medicine Campground
23 km / 820 hm / 5,75 h
Der Tag beginnt – wie fast immer – mit einem Elch, bevor wir uns auf den Weg zum Pitamakan Pass machen. Wir passieren den Morning Star Lake und seinen Zeltplatz, der wunderschön aussieht, aber momentan noch komplett unter Schnee begraben ist. Der Wind ist kalt und böig, doch die Ausblicke bei unserem weiteren Aufstieg entschädigen dafür. Unter uns liegen zwei halbgefrorene Seen, bei denen die schmelzende Eisschicht faszinierende Muster bildet. Das letzte Schneefeld können wir umgehen, und wir erreichen den Pass heute ohne Probleme. Oben erwartet uns ein kurzer, wunderschöner Gratweg.
Auf der anderen Seite machen wir eine Mittagspause mit Blick auf den Oldman Lake, der unter uns funkelt. Wir beobachten, wie der Wind über die Wasseroberfläche fegt und kleine Wellen verursacht. Gleichzeitig jagen Wolken in sich ständig ändernden Formen über die umliegenden Gipfel – ein tolles Schauspiel.
Sobald wir den Schnee hinter uns gelassen haben, führt der Trail durch einen wunderschönen Wald voller Wildblumen, und wir haben weitläufige Ausblicke ins Tal. In der Ferne können wir schon den Two Medicine Lake sehen, unser heutiges Ziel.
Auf unserem Weg zum General Store treffen wir ein paar Leute mit Ferngläsern. Natürlich fragen wir, was sie beobachten, und sie zeigen uns zwei Grizzlys weit oben am Hang. Genau so mag ich meine Bären: weit entfernt.
Im Store gönnen wir uns jede Menge „Hiker Trash“-Essen, von dem wir die letzten Tage schon geträumt haben. Nur Thru-Hiker können sich so sehr über Mikrowellenessen freuen. Alles, was nicht gefriergetrocknet oder dehydriert ist, klingt wie das Beste überhaupt.
CDT Tag 7 – Two Medicine Campground bis East Glacier
17,6 km / 800 hm / 3,5 h
Scenic Point ist unser letzter Pass im Glacier National Park, und eigentlich hätte es so einfach sein können. Fast kein Schnee mehr, und sanfte Serpentinen führen nur fünf Kilometer den Berg hinauf. Aber der Wind tobt in verrückten Böen.
Der Wind ist so stark, dass er uns buchstäblich umstößt – es ist unmöglich, normal zu gehen. Es dauert ewig, dieses kleine Stück zu bewältigen. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt vorwärts wage, bringt mich der Wind aus dem Gleichgewicht. Meine Trekkingstöcke sind wie ein zweites Paar Beine und extrem hilfreich. Immer wieder muss ich in die Hocke gehen oder mich auf alle Viere begeben, und meinen Kopf zu schützen. Sobald der Wind ein wenig nachlässt, rennen wir ein paar Schritte weiter, bis wir uns wieder ducken und abwarten. Für einen Moment möchte ich am liebsten weinen, so hilflos fühle ich mich. Aber ich weiß, dass ich es schaffen werde – es ist nicht mehr weit bis zur anderen Seite.
Endlich überschreiten wir den Pass, und der Wind beruhigt sich spürbar. Hier gibt es keinen steilen Abhang mehr, nur eine sanft abfallende grüne Wiese. Die Erleichterung, auf der anderen Seite zu sein, ist riesig, aber wir gehen zügig weiter, um diesen Abschnitt so schnell wie möglich hinter uns zu lassen. Es gibt einen kleinen Seitentrail zum Gipfel, aber es gibt keine Chance, dass ich mich noch einmal in diesen Wind begebe.
Unter uns breitet sich der Two Medicine Lake aus, und wir sehen die Wellen, die der Wind über die Wasseroberfläche jagt. In der Ferne öffnet sich ein Tal mit sanften, grünen Hügeln, und wir können sogar East Glacier Village erkennen.
Die CDT bleibt unberechenbar und fordert uns immer wieder heraus. Man weiß nie, was einen erwartet. Selbst ein vermeintlich einfacher Tag kann sich als alles andere als leicht herausstellen. Und es dauert immer länger, als wir denken.
Wir wandern in die Stadt zurück, zum Looking Glass Basecamp, wo wir vor sieben Tagen unsere Reise begonnen haben. Wir sind sonnenverbrannt, erschöpft und wir stinken. Doch dann entdecke ich in der Hikerbox meinen Geldbeutel. Jemand muss sie gefunden und hier abgegeben haben. Der Trail sorgt für alles.