HRP 1: Beginn der Pyrenäen-Durchquerung am Atlantik – Hendaye bis Iraty

Mein Thru-Hike der Haute Route Pyrenees (HRP) beginnt zwischen Atlantikluft und ersten Höhenmetern. Ich starte angeschlagen, schwitze mich durch schwüle Anstiege, stolpere vom Konsumrauschen der Grenze in stille Picknickmomente, treffe Weggefährten auf Zeit. Die Route zeigt schnell ihr Wesen: einsam, fordernd, manchmal weglos. Mein Körper sendet Warnsignale und ich lerne wieder, dass Stärke oft aus Pausen besteht. Es ist ein ehrlicher Anfang: Kontraste, kleine Siege, kluge Abzweige und die leise Zuversicht, dass der Weg mich dennoch weiterführt.

Die Haute Randonnée Pyrénéenne (HRP) ist die wildeste und anspruchsvollste der drei großen Pyrenäen-Durchquerungen. Anders als der GR 10 in Frankreich oder der GR 11 in Spanien führt der HRP mitten durch die Hochlagen, oft direkt entlang der Grenze. Dabei verbindet er markierte Wege mit unmarkierten Pfaden, alten Hirtenwegen und luftigen Graten. Offiziell markiert ist er nicht.

Von Hendaye am Atlantik bis nach Banyuls-sur-Mer am Mittelmeer sind es rund 750 Kilometer und über 50.000 Höhenmeter. Der HRP verlangt Ausdauer, Orientierungssinn und Selbstversorgung, belohnt aber mit Einsamkeit, Wildnis und alpinen Landschaften. Genau dafür sind wir hier.

HRP Tag 1 – Start am Atlantik

Hendaye bis Kondendiagako: 25,7 km / 1.500 hm / 7 h

Mit dem TGV, der mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit von bis zu 318 km/h über die Landschaft fegt, fahren wir von München über Paris nach Hendaye an der französischen Atlantikküste und übernachten dann auf einem örtlichen Campingplatz, um am nächsten Tag den HRP zu beginnen.

Ganz ideal startet dieses Abenteuer nicht: Einen Tag vor der Abreise aus Deutschland hat mich eine Blasenentzündung erwischt, die mich immer noch quält. Gerne wäre ich euphorischer, als wir endlich loslaufen, aber stattdessen bin ich besorgt und fühle mich nicht gut. Aber ich beschließe, dass das okay ist. Ich muss nicht glücklich sein. Es gibt Gründe dafür, und sie halten mich nicht von dieser Wanderung ab.

Wir beginnen am Strand von Hendaye, folgen der Küstenlinie und legen einen Abstecher zur Post ein, um ein paar unserer selbst dehydrierten Mahlzeiten vorauszuschicken. Die Dame am Schalter spricht kein Englisch, wir kaum Französisch. Aber sie ist geduldig, lächelt viel, und nach einer Weile ist alles erledigt. Ein kleiner logistischer Sieg gleich zu Beginn.

Dann folgt der erste Anstieg aus der Stadt. Die Luft ist schwül, und innerhalb kurzer Zeit sind wir nass geschwitzt. Das kann ja was werden. Spontan nehmen wir den Gipfel des Xoldoko Gaïna mit und blicken von oben zurück: Hendaye liegt unter uns, dahinter den Atlantik, den wir hinter uns lassen.

In Elzaurdia treffen wir auf eine skurrile Parallelwelt: Ein Grenzort voller Läden, die Alkohol, Zigaretten, Parfum und Shampoo in Massen verkaufen. Menschen mit Kisten voller Seifen und Getränkekartons, Deals, Deals, Deals. Wir fühlen uns fehl am Platz, ich bin reizüberflutet, also kaufen wir hastig Baguette, Salami und Chips und verschwinden wieder. Uns hier in eins der Restaurants zu setzen, danach ist uns nicht. Wir finden einen Picknickplatz mit Wasser, waschen uns den Schweiß vom Gesicht und essen Baguette. Es ist so ruhig und friedlich hier, ein Kontrast zu dem wuseligen Ort, an dem wir gerade noch waren, den wir sehr genießen.

Am Nachmittag steigen wir zum Larhun (905 m) auf. Erst sanft durch den Wald, dann zunehmend steiler, bis wir die Häuser am Gipfel schon von weitem sehen. Wir geben unser Bestes auf der steilen Forststraße, natürlich nicht ohne wieder komplett nass geschwitzt zu sein. Zwischen „Bonjour“ und „Hola“ zu wählen, wird zum kleinen Spiel beim Grüßen der anderen Wandernden, denn der Berg liegt direkt an der spanisch-französischen Grenze.

Oben ist die Hölle los, denn viele Besucher sind mit der Zahnradbahn hochgefahren. Wir überlegen kurz, den Gipfel auszulassen, gehen dann aber doch die letzten Meter. Die Aussicht ist es wert: Die ganze Küste liegt uns zu Füßen, und tief unten Hendaye, wo wir heute Morgen gestartet sind. Obwohl es schon 18:50 Uhr ist, sind noch viele Menschen oben. Das Restaurant schließt gerade, doch wir ergattern noch Pommes. Eine Belohnung für den schweißtreibenden Aufstieg.

Zwischen Ponys, Schafen und Golden Retrievern folgen wir weiter dem HRP, dessen steiler Abstieg unsere Knie fordert, und bald sehnen wir uns nach einem Platz für die Nacht. Ich habe genug. Mir tut alles weh. Trotz des späten Starts haben wir einiges geschafft. Endlich erreichen wir die kleine unbewirtschaftete Hütte Kondendiagako. Drinnen wäre Platz für vier Personen, doch wir schlagen lieber unser Zelt auf der Wiese davor auf. Ein großer Baum spendet Schutz, die Abendluft ist friedlich, keine Menschen weit und breit, nur das Läuten der Pony-Glocken klingt in der Ferne. Endlich Ruhe.

Ein langer, anstrengender erster Tag. Nicht perfekt, aber voller Kontraste. Und ein Anfang ist gemacht.

HRP Tag 2 – Wenn der Körper nicht mitspielen will

Kondendiagako bis Ruine vor Arizkun: 22,5 km / 950 hm / 5,5 h

Auch heute schwitze ich schon beim ersten Schritt. Der Weg führt uns zunächst weiter bergab zur Straße, dann direkt wieder hinauf. Unterwegs treffen wir Iiro aus Finnland, der im letzten Jahr sowohl den Pacific Crest Trail als auch Te Araroa gegangen ist. Er erzählt uns, dass er auf dem PCT eine US-Amerikanerin kennengelernt hat, die er bald heiraten will. Anders als wir entscheiden sie sich allerdings, zusammen in den USA zu leben. Unsere Wege trennen sich bald, doch für einen Moment fühlen wir uns verbunden, wie das so ist unter Thru-Hikern.

Mittags erreichen wir Lizarrieta und gönnen uns im Restaurant zwei große Teller voller Fleisch, Pommes, Salat und Spiegelei, dazu Cola. Ein Festmahl. Wir verabschieden uns von Iiro, der mit einer schmerzhaften Achillessehnenentzündung kämpft und sich daher eine Pause gönnen will. Er wird versuchen, von hier nach San Sebastián zu hitchen. Es ist ein Rätsel, wie er nach über 6.000 km im vergangenen Jahr gleich am ersten Tag auf dem HRP eine Achillessehnenentzündung bekommt, aber es gilt, dies nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir wünschen ihm, dass er wieder auf die Beine kommt, und tauschen Telefonnummern aus. Wir hoffen, wir sehen ihn wieder. Bisher sind wir nur Wanderern auf dem GR 10 und dem GR 11 begegnet, mit denen der HRP immer mal wieder Abschnitte teilt.

Auch ich bin angeschlagen. Meine Oberschenkel brennen, mit jeder Pause werden die Schmerzen schlimmer. Es erinnert mich an den CDT, als ich mit Blasenentzündung und Antibiotika unterwegs war. Es muss sich wohl um eine seltene Nebenwirkung des Antibiotikums handeln, die nur in Zusammenhang mit starker körperlicher Belastung auftritt. Mit jeder Pause wird es schlimmer, und so kämpfe ich mich die Anstiege hinauf und hinunter. Dazu kommen neue orthopädische Einlagen, die meine Füße reizen, was aber immerhin schnell besser wird, sobald ich sie herausnehme.

Landschaftlich ist der Tag wenig spektakulär. Wir stapfen über matschige Forststraßen, durch Wälder und sanfte Hügel, laufen ein Stück auf dem GR 11, bevor der HRP wieder seinen eigenen Weg nimmt. Ein mit Farnen bewachsener Grat führt uns bergab – glücklicherweise sanft, denn etwas so Steiles wie gestern Abend wäre mit meinen schmerzenden Beinen kaum machbar.

Am späten Nachmittag finden wir einen guten Zeltplatz: eine kleine Lichtung neben einer alten Ruine, unter knorrigen Buchen. Es ist noch nicht mal 18 Uhr, aber meine schmerzenden Beine mögen nicht mehr weitergehen. Ich möchte vermeiden, dass es so endet wie auf dem CDT, wo ich plötzlich gar nicht mehr gehen konnte, geschweige denn mich aufrichten konnte, und einen Pausentag brauchte, um mich davon zu erholen. Wasser gibt es hier zwar nicht, doch wir haben genug für die Nacht und werden am Morgen auf eine Quelle stoßen. Zum Abendessen essen wir eine abenteuerliche Mischung aus Linsen, Chips, Eiern und Salami. Was etwas eklig klingt und aussieht, erweist sich als gar nicht mal so schlecht. Der Hikertrash Modus ist aktiviert.

Der HRP beginnt nicht unter den besten Voraussetzungen und verläuft ganz und gar nicht wie geplant: Statt Leichtigkeit und Euphorie begleiten mich Schmerzen und Sorgen. Aber ich hoffe auf schnelle Besserung.

HRP Tag 3 – Ein neuer Tag, ein neuer Schmerz

Ruine vor Arizkun bis Col Nahala: 27 km / 1.420 hm / 7,5 h

Der Morgen beginnt mit dem Abstieg nach Arizkun, wo wir am Dorfbrunnen auf Luca aus Deutschland treffen. Er ist gerade einmal 19 Jahre alt, gestern in Hendaye gestartet und ist mal eben an seinem ersten Tag 50 km und über 2.500 hm gegangen. Der HRP ist seine erste große Wanderung, doch er bringt reichlich Bikepacking-Erfahrung mit, unter anderem Touren zum Nordkap und nach Griechenland. Er hat nur nur 20 Tage, bevor sein Physiotherapie-Studium beginnt, und so will er so weit kommen, wie es eben geht. Beeindruckend, was jugendliche Energie so möglich macht.

Wir gönnen uns ein Frühstück mit Tortillas in einem Restaurant und kaufen Baguette. Französische sind zwar besser als die spanischen, aber die Tortillas sind fantastisch. Wir schlendern durch hübsche Gassen, vorbei an Kirchen und Katzen, und unterhalten uns kurz mit einem spanischen Paar in einem Mix aus Englisch und Spanisch. „Camino?“, fragen sie. Nein, erkläre ich, wir nehmen die Höhenroute über die Pyrenäen.

Der nächste Aufstieg hat es in sich: steil, schwül, brütend heiß, der Schweiß rinnt in Strömen. Ein Bushwhack durch Farne und Dornen zerkratzt unsere Beine, während wir immer wieder vor Schmerzen aufjaulen und Bremsen uns beißen. Als wir endlich die Forststraße erreichen, die wir besser hätten nehmen sollen, brennen unsere Beine wie Feuer. Pause.

Über uns ziehen Geier ihre Kreise, am Wegesrand locken Brombeeren, während die Navigation zum Glücksspiel wird. Es gibt mehrere Möglichkeiten und es ist eine riskante Wette, auf welche wir setzen. Mal landen wir richtig, mal im Gestrüpp. Einmal rieche ich ein totes Schaf, bevor ich es mitten auf dem Weg sehe. Ein anderes Mal endet der Pfad abrupt an einem umgestürzten Baum. Meine Füße schmerzen, besonders der linke.

Der Abstieg nach Aldudes ist steil und rutschig. Offenbar sind wir zurück in Frankreich, denn die Grüße wechseln wieder zu „Bonjour“. Am Brunnen treffen wir erneut Luca. Wir haben nicht damit gerechnet, ihn bei seinem Tempo noch einmal wiederzusehen. Doch er hat einfach zwei Stunden Pause hier eingelegt. Wir waschen uns den Schweiß ab, füllen Wasser auf und kaufen im kleinen Laden ein, wo uns ein pfeifendes Plüschmurmeltier empfängt. Der Laden bietet eine vernünftige Auswahl. Wir sehen erst kein Baguette, fragen dann aber die Verkäuferin, die welche hinter der Theke hervorholt und uns damit ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Am Nachmittag zeigt sich der HRP von seiner schöneren Seite. Der Aufstieg direkt hinter Aldudes ist steil, die Sonne brennt, doch es ist weniger schwül. Eine angenehme Brise kühlt uns auf den nun folgenden Graten. An einer Quelle tauche ich meine schmerzenden Füße ins Wasser. Der Blick vom Errolla (908 m) belohnt uns, zwischen Schafen und Wind. Danach geht es steil bergab, die Knie protestieren, gefolgt von einem weiteren Anstieg durch den Wald.

An einer Wasserstelle wollen wir zelten, doch sie ist bereits von Autocampern belegt. Schließlich schlagen wir unser Lager etwas oberhalb der Straße im Wald auf. Ein schwarzes Pferd stattet uns einen Besuch ab, verschwindet wieder und wiehert immer wieder mal in der Ferne.

HRP Tag 4 – Zwischen Camino-Trubel und einsamen Pfaden

Col Nahala bis Egurgui: 30,4 km / 1.280 hm / 8 h

Wir erwachen mitten in den Wolken. Der Wald liegt in mystischem Nebel, als wir zum 1.220 m hohen Lindus und seiner Festung aufsteigen. Plötzlich durchbrechen wir die graue Decke. Die Sonne strahlt, der Himmel leuchtet blau, und eine friedliche Stimmung legt sich über alles. Beim Abstieg hinunter zur Straße nach Roncesvalles brechen Sonnenstrahlen durch den Nebel, tauchen die Landschaft in märchenhaftes Licht. Pferde grasen zwischen den Schleiern.

Heute ist es das erste Mal kalt, ich friere unten am Straßenpass geradezu, als wir an einer Kirche rasten. Erst mit dem nächsten Anstieg gelangen wir erneut über die Wolken. Ein kalter Wind kühlt uns, und selbst beim steilen Schlussanstieg zum Pass komme ich nicht ins Schwitzen. Eine Wohltat nach der schwülen Atlantikküste.

Hier stoßen wir auf den Camino Frances, mit dem wir nun ein paar Kilometer teilen. Und damit auf Scharen von Pilgern. Gruppen in Baskenmützen, Fahnen schwenkend, Pfadfinder, ein Pilger im traditionellen Gewand und mit Pilgerstab. Ein junger Mann fragt uns, ob es am kleinen Emergency Shelter am Pass etwas zu essen oder zumindest Kaffee gäbe. Leider nicht, zu seiner großen Enttäuschung. Wir schmunzeln, wohl wissend: Für die Pilger ist dies der erste Wandertag, gleich 25 km und 1.250 Höhenmeter bis Roncesvalles. Kein leichter Einstieg und einigen ist die Erschöpfung deutlich anzusehen.

Kurz darauf biegen wir ab, lassen die Massen hinter uns. Nur noch Pferde, Kühe und Schafe begleiten uns. Auf einem sonnigen Pass genießen wir unsere Mittagspause, während Luca – „Flash“, wie ich ihn inzwischen nenne – wieder an uns vorbeirauscht.

Der weitere Weg führt über Straße und vorbei an einem gravierten Steinkreis (Cromlech genannt), der einen unterirdischen megalithischen Dolmen markiert. Diese Gegend wimmelt nur so von diesen prähistorischen Grabstätten, aus riesigen Steinen erbaut und ursprünglich mit einem Erdhügel bedeckt, die bis heute erhalten sind. Stille Zeugen einer längst vergangenen Kultur. Dieser Steinkreis ist jedoch nicht historisch, was die zeitgenössischen Gravuren in einigen der Steine erklärt.

Dann geht es steil hinunter zum Fluss, dessen Rauschen nach Erlösung klingt: Endlich, nach fünf Tagen, ein Bad! Die Erfrischung tut gut, doch mein linker Fuß schmerzt immer stärker. Es ist mein großer Zehennagel, der seit Jahren immer wieder abstirbt und nie gescheit nachwächst, aber bisher hat das keine großen Probleme verursacht. Jetzt aber zieht sich der Schmerz durch den ganzen Fuß. Vielleicht ist er entzündet.

Dann heißt es auf der anderen Seite des Flusses wieder aufsteigen. Wir konnten die Serpentinen bereits von der anderen Straße aus sehen, die uns hinauf zu einem weiteren Pass führen. Wir gehen durch hohes Gras und plötzlich erwischt irgendetwas meine Beine, das ähnlich wie Brennnesseln brennt, aber ich sehe keine. Ich spüle meine Beine mit etwas Wasser ab, was mir Erleichterung verschafft. Der Aufstieg erfolgt entlang der grasigen Bergflanke, was etwas suspekt ist. Wir sehen kaum, wohin wir unsere Füße im hohen Gras setzen. Wenn wir hier einen falschen Schritt machen, rutschen wir bis zum Fluss hinunter. Oder ein Fels oder Loch im Boden könnte uns umschnackeln lassen. Ganz zu schweigen von Schlangen, die sich nichts ahnend im hohen Gras befinden könnten. Geheuer ist mir das nicht, ich setze meine Schritte vorsichtig und konzentriert.

Als wir oben auf Luca treffen, erzählt dieser uns, er sei tatsächlich abgerutscht und hätte dabei sein Handy verloren – und zum Glück wiedergefunden. Es ist das letzte Mal, dass wir ihn sehen. Ein Blitzlicht auf unserem Weg.

Es folgt ein verwirrender Pfad entlang eines Flusses, der mit der bekannten Mischung aus Gras, Farnen und Dornen überwachsen ist. Er verliert sich schließlich im Gestrüpp. Schließlich geben wir es auf diesem unmöglichen Weg folgen zu wollen, und weichen auf die parallel verlaufende Straße aus, wo wir deutlich schneller vorankommen. Wir erreichen eine Brücke und beschließen, hier unseren Tag zu beenden. Hier beginnt ein steiler, über 600 Höhenmeter langer, wegloser Aufstieg, der schwer zu navigieren ist, und uns könnte dabei das Tageslicht davonrennen.

Mein Fuß schmerzt nun so stark, dass wir beschließen, morgen nur 15 km bis nach Iraty zu gehen, um dort zu duschen, unsere Powerbanks aufzuladen und hoffentlich herauszufinden, was mit meinem Fuß los ist. Hier draußen ohne Internet bleibt mir nur das Naheliegende: kühlen, hochlagern, Ibuprofen nehmen. Doch die Sorge bleibt.

HRP Tag 5 – Du willst es also auf die harte Tour?

Egurgui bis Iraty: 15,6 km / 1.100 hm / 5 h

Ich bin froh, dass wir den Aufstieg gestern Abend nicht mehr in Angriff genommen haben. Die ersten Stunden heute sind sehr mühsam. Die Wegfindung ist schwierig, immer wieder verlieren sich gute Pfade plötzlich im Nichts und wir müssen uns immer wieder neu orientieren. Teilweise steigen wir querfeldein durch die steilen Grashänge. Immerhin befinden wir uns dabei größtenteils im Schatten, bevor die Sonne hinter den Bergen hervorkommt, und geraten dabei kaum ins Schwitzen.

Oben stoßen wir endlich auf einen vernünftigen Pfad. Erst hier entdecke ich auf der Karte, dass wir auch einfach den GR 10 hätten nehmen können, der zwar länger ist, aber sicher deutlich schneller gewesen wäre. Und genau hier zeigt sich der Unterschied: Der HRP ist die schwierige Variante für jene, die es auf die harte Tour mögen. Dafür ist er wild und einsam. Seit Hendaye haben wir erst drei andere HRP-Wanderer getroffen, was ganz nach meinem Geschmack ist. Wann immer wir den GR 10 oder 11 kreuzen, ganz zu schweigen von den Kilometern auf dem Camino Francés gestern, begegnen wir einigen Wanderern.

Wir erklimmen den Okabe (1.466 m), wieder weglos, und legen dort eine Pause ein. Im hohen Gras haben wir Zecken aufgelesen. Bisher hat sich keine eingegraben, also sind sie einfach zu entfernen. Dann geht es weiter, zurück auf den GR 10 und damit ab jetzt deutlich einfacher. Breiter Forstweg, perfekt markiert, sanfte Steigungen, keine Probleme.

Am Nachmittag erreichen wir einen Campground. Wir hängen unser von nächtlicher Kondensation durchnässtes Zelt in die Sonne, laden Batterien auf, waschen uns grob. Duschen gäbe es auch, aber es wäre vergebene Liebesmüh, da wir danach ohnehin wieder aufsteigen und schwitzen.

Noch einmal 400 Höhenmeter bergauf. Wir sind dankbar, dass diese sich größtenteils im schattigen Wald befinden. Die Temperaturen klettern heute auf 30°C, doch es ist trockenere Hitze, nicht mehr das tropisch-feuchte Schwitzklima der ersten Tage. Mein Shirt klebt nicht mehr wie ein nasser Lappen an der Haut.

Ein letzter Anstieg bringt uns nach Iraty, einen Tourismuskomplex mit Herberge, Laden und Campground. Die Herberge ist voll, doch wir können für 12 Euro zelten. Im kleinen Laden kaufen wir Nudeln, Tomatensoße und Baguette. Wir duschen, waschen unsere Kleidung im Waschbecken und kochen einen Berg Nudeln mit Tomatensoße und Salami. Danach bin ich erstaunlicherweise immer noch hungrig. Wir haben endlich Mobilfunkempfang und ich recherchiere zu meinem Fuß.

Der Schmerz strahlt inzwischen bis ins ganze Bein aus. Laufen ist erträglicher als Pausieren, aber die nächsten 48 Kilometer wären absolutes Nirgendwo. Meine Online-Recherche deutet auf ein Hämatom oder eine Infektion unter dem Zehennagel hin. So oder so, ein Arztbesuch ist angebracht. Wir beschließen, nach Saint-Jean-Pied-de-Port zu fahren, wo der Camino Francés beginnt und es medizinische Versorgung gibt. Glück im Unglück: Dorthin fährt viermal am Tag ein Bus. Wir beißen also in den sauren Apfel, buchen dort eine Unterkunft und nehmen die 17:15-Uhr-Verbindung dorthin. Wir fahren eine Stunde lang eine kurvige Straße hinab und landen in der historischen Pilgerstadt.

Saint-Jean begrüßt uns mit flirrender Hitze, über 30 Grad auf nur 230 Metern Höhe. Die Sonne brennt förmlich auf unserer Haut, die Luft ist dick. Ryan kann immer noch nicht fassen, dass wir in Europa keine Klimaanlagen haben. Im Hotel lagere ich meinen Fuß hoch, und erst als es abends kühler wird, spazieren wir ein Stück durch die Altstadt und auf der Stadtmauer. Viel laufen ist heute nicht mehr drin, aber Saint-Jean ist nicht der schlechteste Ort für einen ungeplanten Zero. Nur eine Sache fehlt: eine Socke, die Ryan zum Trocknen an seinen Rucksack gehängt hat und irgendwo zwischen hier und Iraty verloren haben muss.

Zero in Saint-Jean-Pied-de-Port: Glück im Unglück

Am Morgen geht es zuerst zur Apotheke. Mit meinen zurechtgelegten französischen Sätzen schildere ich mein Problem. Ich kann nur ein paar Worte Französisch, aber mit der Aussprache bin ich vertraut genug, dass das, was ich von mir gebe, einigermaßen verstanden wird. Und jeder, den wir treffen, ist sehr freundlich und geduldig mit uns.

Die Apothekerin gibt uns Adressen von Ärzten und ich bekomme einen Termin für den Nachmittag. Nach einer Nacht mit hochgelegtem Fuß geht es mir zwar schon besser, aber es ist trotzdem besser, die Sache überprüfen zu lassen.

Wir erledigen unseren Resupply im Supermarkt, ruhen uns aus und gönnen uns ein Mittagessen im Café des Sports. Hervorragendes Preis-Leistungs-Verhältnis, dazu das beruhigende Gefühl, dass wir hier alles regeln können.

Am Nachmittag sehe ich die Ärztin. Sie spricht gutes Englisch, ist wie alle sehr freundlich und bestätigt meine Vermutung: ein Hämatom unter dem Nagel, keine Infektion. Irgendwie muss ungünstig Druck auf den Nagel gekommen sein, was ich vorher noch nie hatte. Es hat mir Angst gemacht, dass der Schmerz in mein ganzes Bein geschossen ist. Muss einen Nerv gereizt haben. Ein Schreck, aber nichts Dramatisches. Sie verschreibt Schmerzmittel und organisiert für denselben Abend einen Termin bei der Podologin für mich. Ich bin erleichtert und dankbar für so viel Hilfsbereitschaft.

Solche Situationen sind für mich besonders anstrengend: soziale Interaktionen, Sprachbarrieren, der Druck, alles richtig zu machen. Nach außen wirke ich souverän, bekomme oft gesagt, ich wirke, als hätte ich alles im Griff. Innen drin aber: Alarmstufe Rot. Ich bin immer noch fasziniert von der Tatsache, dass mir das nicht anzumerken sein soll, und ich von Außenstehenden oft als stark und unabhängig wahrgenommen werde. „Fake it until you make it“? Nach 38 Jahren des Maskierens habe ich das Gefühl, es funktioniert nicht für Autist:innen. Und doch erleichtert es vieles, wenn die Menschen um mich herum freundlich und geduldig mit mir sind. So wird zumindest nicht mein Gefühl der Unzulänglichkeit getriggert.

Die Kosten sind überschaubar: 30 Euro für die Untersuchung, 13 Euro für Medikamente – dank meiner EU-weit gültigen deutschen Krankenversicherung sogar erstattungsfähig. Mit dem „feuille de soins“-Formular in der Tasche ist alles geregelt. Glück im Unglück, dass wir gestern an einen Ort mit Handyempfang und Bus in eine nicht allzu weit entfernte größere Stadt gekommen sind. Das wäre später schwierig geworden. 

Zurück im Hotel bereite ich mich vor: mehrstündiges Einweichen des Nagels in warmem Wasser, wie von der Ärztin empfohlen. So wird der Nagel weicher und damit die Behandlung einfacher und weniger schmerzhaft. Sie empfiehlt mir auch, vorher Schmerzmittel zu nehmen, was mir Angst einflößt. Da die Podologin kein Englisch spricht, ist der Gedanke schwierig für mich, dass sie mir nicht sagen können wird, was ihre nächsten Schritte sein werden.

Aber am Ende ist es halb so wild. Mit Übersetzungsapps klappt die Verständigung, die Behandlung selbst ist erträglich: kein Punktieren, nur Abtragen des dicken Nagelteils, Entlastung schaffen. Ein Pflaster schützt die Basis. Sie versichert mir, dass ich morgen wieder weitergehen kann. Unsagbare Erleichterung. Kostenpunkt: 38 Euro.

Auch sie ist extrem nett. Die Franzosen haben völlig zu Unrecht einen schlechten Ruf, dass sie unfreundlich seien. Bisher ist uns nichts als Freundlichkeit entgegengekommen, trotz meiner nur rudimentären Sprachkenntnisse und stümperhaften Kommunikationsversuche.

Abends spazieren wir durch die Altstadt. Hinauf zur Zitadelle, hinunter zur Pont Notre Dame, während der Himmel sich rosa färbt und in die blaue Stunde übergeht. Die historischen Gebäude spiegeln sich im glatten Wasser, aus der danebenstehenden Kirche dringt Chorgesang. Wir hätten es wirklich schlechter treffen können. Saint-Jean-Pied-de-Port ist ein Ort, den wir uns nicht ausgesucht haben, der uns aber zur richtigen Zeit aufgefangen hat.

Hier geht’s zum zweiten Abschnitt auf dem HRP:

HRP 2: Hitze, Höhen, Hüttenzauber – Iraty bis Gavarnie

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Vielleicht gefällt dir auch